Statement der Regisseurin Sapir Heller

Angesichts des Krieges in Nahost beleuchtet die „Deutsche Bühne“ die Situation jüdischer Künstler:innen in Deutschland. Die Regisseurin Sapir Heller ist in Israel geboren und aufgewachsen, seit 2008 lebt sie in Deutschland. In einem persönlichen Beitrag beschreibt sie ihre Ohnmacht nach den Massakern der Hamas in Israel.

Die schwierigste Frage für sie gerade ist: „Wie geht es dir?“
„Ich lebe“, antwortet sie.

Es ist ein Fakt. Sie lebt. Und ihre Familie lebt. Keiner von ihnen wurde ermordet. Nur Freunde von… Verwandte von… Arbeitskollegen von… Viele. Über zwei Ecken. Sie lebt.

Zum Glück. Weil sie auch fast dort gewesen wäre. Und dann… Dann würde sie jetzt vielleicht nicht leben. Ihr hätte es genau so passieren können. Und ihren Kindern. Sie schreibt das und ihre Hände zittern. Nur bei dem Gedanken platzt ihr schon der Kopf. Und das Herz. Sie lebt.

Ihr Körper ist dauer-angespannt. Stets zusammengezuckt, zusammengeschrumpft. Jedes Mal, wenn jemand sie zufällig anfasst, tut es ihr weh. Sie schaut die ganze Zeit in allen Richtungen, um sicherzustellen, dass keiner sie beobachtet. Auf der Straße spricht sie nicht mehr ihre Muttersprache. Ihre Lippen sind wie zusammengenäht. Die Stille wird immer lauter. Sie ist zum ersten Mal froh über den Winter, weil sie in ihrem Mantel fast verschwinden kann. Sie lebt.

Nur ihre Seele ist verletzt und ihre Gedanken sind entführt und ihre Gefühle sind gefangen. Und vielleicht ist sie innerlich auch ein bisschen gestorben. Aber sie lebt.

Aus der Ohnmacht heraus, sagt sie sich. Hilf jetzt anderen Menschen. Eröffne einen Not-Kindergarten. Und eine Not-Schulklasse. Organisiere Abende des Zusammenkommens. Sagt sie sich. Organisiere eine Klamotten-Spendenaktion. Hilf bei Wohnraumsuche. Stelle Texte zusammen für eine Lesung in einem Theater. Und in noch einem. Und noch einem. Hänge Schilder von Entführten auf. Spende Geld an Überlebende. Sagt sie sich. Schreibe darüber. Sprich darüber. Überall. Gehe auf Demos. Organisiere Gespräche mit Psychologinnen, Sozialarbeitern und Therapeuten. Es ist gerade nötig. Für alle. Sagt sie sich. Umarme die Umarmungen, die du bekommst. Es sind viele. Hoffnung. Hoffnung. Hoffnung. Es wird alles gut sein. Am Ende ist immer alles gut. Wie geht es dir?

Ich lebe.

Ganzes Statement  Wie man nach einem Massaker humanistisch bleibt in 17 Schritten