Stefan Czura: Deine kommende Inszenierung der Märchenoper „Hänsel und Gretel“ von dem Komponisten
Engelbert Humperdinck wird maßgeblich von der Ästhetik des amerikanischen Filmregisseurs Tim Burton inspiriert. Welche seiner Filme sind für dich dabei die größten Ideengeber?
Nicola Raab: Ich mag sie alle irgendwie. Wahrscheinlich werde ich abends, wenn ich einen langen Probentag hinter mir habe, wieder als Inspiration in seine Filme eintauchen. Als Erstes fällt mir der 2016 erschienene Fantasy-Film „Die Insel der besonderen Kinder“ ein. Der Film inspiriert mich, weil er Magie als besondere Fähigkeiten umdeutet und dabei so hervorhebt, nicht „normal“ sein zu müssen. Zudem liebe ich „Nightmare Before Christmas“: Dieses Puppen-Grusical liefert durch seine unverkennbaren Klänge von Komponist Danny Elfman einen Ohrwurm nach dem anderen. Außerdem begeistere ich mich für diese liebevoll-schaurige Halloween-Welt! Zusammen bilden sie eine perfekte Mischung aus Makaberem und Poesie. Diese Verbindung ist etwas, das mich auch in „Hänsel und Gretel“ von Engelbert Humperdinck fasziniert hat.
SC: Wenn ich als Neuling seine Werke sehen würde: Wie würdest du mir das Besondere an Burtons Welt nahebringen?
NR: Dass auch Poesie in dem Grotesken zu finden ist. Das Spannende daran ist, dass der US-amerikanische
Filmregisseur in seinen Aufnahmen ein Zwischenreich schafft. Sie sind weder ganz realistisch aber auch nicht komplett fantastisch – ein bisschen wie im Märchen. Im Kern geht es in all seinen Geschichten um Außenseiter*
innen oder Kreaturen, die im Grunde ganz liebevoll sind, aber von der Welt als „Weirdos“ abgestempelt werden. Dazu kommt sein ganz eigener Stil: kindliche Melancholie gepaart mit groteskem Humor. Er nutzt das Düstere, aber nicht, um dir Angst zu machen, sondern um dich tief zu berühren. So liegt für ihn die Magie im Anderssein, welche es seinen Protagonist*innen wie Edward mit den Scherenhänden oder Alice aus „Alice im Wunderland“ erlaubt, die Grenze der Normalität zu sprengen.
SC: Warum ist Burtons Stil der richtige für deine Inszenierung, im Gegensatz zu anderen Filmregisseur*innen wie Wes Anderson?
NR: Ich kann mir gut vorstellen, dass gerade junge Menschen quer durch viele Altersstufen seine Filme
kennen. Sie können genau an diese Ästhetik anknüpfen. Ich sage ganz bewusst „junge Menschen“ und nicht nur „Kinder“. Was wir gemeinhin als Kinder bezeichnen, sind in Wahrheit junge Menschen, die heutzutage unglaublich viel sehen, unfassbar viel mitbekommen, von klein auf. Ich traue ihnen ehrlich gesagt sehr viel zu.
SC: Burtons Filme sprechen ja auch existenzielle Themen an. Wie nutzt du seine kindliche Perspektive, um diese großen Fragen in der Oper zu beleuchten?
NR: Der Filmregisseur und Illustrator setzt in einer Zeit voller Träume und Fantasie an: der Kindheit. Er gibt uns ein Stück von ihr zurück und ermutigt uns, auch im Alltäglichen das Magische zu finden. Dabei dient diese kindliche Perspektive als Werkzeug, um Ängste und fundamentale Fragen zu beleuchten, wie den Verlust einer engen Bezugsperson („Frankenweenie“) oder die Überwindung von Traumata („Beetlejuice, Beetlejuice“). Ich sehe darin ein Versuch, solche Themen wie zum Beispiel den Tod zu enttabuisieren. Er ist bei ihm oft ein bunter, witziger, fast normaler Teil der Existenz, nicht das Ende der Geschichte, da beginnt sie meistens erst.
SC: Ich sehe in der Verbindung aus Oper und Tim Burton auch die Chance, genau solche Themen anzusprechen…
NR: Ja, denn Kinder interessiert nicht nur das Aufwachsen, sondern auch, was am Ende eines Lebens steht. Wir haben diese unglaublich tolle Schlaftraumsequenz, in der das Geschwisterpaar in den Schlaf gelegt wird. Man weiß nicht wirklich, ob und wann sie wieder aufwachen. Das ist sehr berührend, weil es die Verwandtschaft von Schlaf und Tod als Zustand spürbar macht.
SC: Das bringt uns zu seinen Protagonist*innen: Warum sind diese ikonischen Außenseiter für uns so zeitlos
und wichtig?
NR: Er beschäftigt sich am liebsten in seinen Arbeiten mit Übergangsriten, sie thematisieren die Suche nach
Identität und das Erwachsenwerden. Dabei fallen mir seine ikonischen Protagonist*innen ein, von Edward mit den Scherenhänden über Jack Skellington bis hin zu Wednesday Addams. Sie sind archetypische Außenseiter*innen, die sich die immer gleichen, zutiefst menschlichen Fragen stellen: „Wer bin ich?“, „Wo gehöre ich hin?“ und „Wie werde ich von den anderen gesehen?“ Diese Themen bewegen nicht nur junge Menschen, sondern berühren auch Erwachsene tief, weil sie uns an unsere eigene Suche erinnern. Auch Hänsel und Gretel befinden sich genau an so einem Schwellenmoment.
SC: Also ist „Hänsel und Gretel“ in deiner Lesart eine Oper über diesen Reifungsprozess oder sogenannten
Coming-of-Age-Moment?
NR: Das Geschwisterpaar befindet sich am Ende der Oper an einem völlig anderen Punkt als zu Beginn. Sie
machen einen ganz entscheidenden Entwicklungsschritt vom Kindsein hin zum Beginn eines Erwachsenwerdens – eine absolute Coming-of-Age-Geschichte, ja. Und ohne zu viel zu spoilern: In dieser Oper hungern alle, die Kinder und die Eltern. Doch wonach sehnen sie sich wirklich? Hänsel und Gretel, ihre Eltern, alle sind von diesem Hunger getrieben, und auf die Suche nach dieser Sehnsucht begeben wir uns.
SC: Die Ausstattung, wie sie Lisa Moro und Danila Travin gestalten, scheint diese Ästhetik aufzunehmen…
NR: Hier verknüpft sich auch wieder die „burtoneske“ Welt. Wir haben versucht, seine Bildsprache zu verflechten mit einem Hauch von Bühnenzauber! Es ist eine Welt, in der auf Düsternis Farbenpracht folgt, in der auf Depression Heiterkeit und auf schwarzen Humor Poesie trifft.
SC: Würdest Du Deine kommende „Hänsel und Gretel“- Inszenierung also als generationsübergreifendes
Opernerlebnis beschreiben?
NR: Absolut, das ist mein großer Wunsch für diesen Abend. Es wäre so unfassbar wunderbar, wenn es mir gelänge, dass sich junge Erwachsene oder auch ältere Menschen plötzlich daran erinnern, wie es war, als sie Kind waren, und erkennen: Dieser Teil existiert noch immer in mir, er hat sich eigentlich nicht verändert! Das Theater ist ein Brückenbauer und die Vorstellungen ein Ort der Begegnungen.
Hänsel und Gretel
Märchenoper in drei Akten von Engelbert Humperdinck / Libretto von Adelheid Wette / in deutscher Sprache mit deutschen Übertiteln / ab 10 Jahren
MUSIKALISCHE LEITUNG Daniel Cohen
REGIE Nicola Raab
BÜHNE Danila Travin
KOSTÜM Lisa Moro
DRAMATURGIE Frederike Prick-Hoffmann
PRODUKTIONSDRAMATURGIE Stefan Czura
Premiere am 06. Dezember 2025, 16:00 Uhr | Großes Haus
Weitere Termine: 11., 18., 19., 21., 23., 26. Dezember, 04. & 09. Januar, 05. März
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