Anton Tschechow war Arzt, Literat und Patient. Sein Schreiben hat ihn bis heute zu einem der meistgelesenen Dichter Russlands gemacht. Es gibt wenige Autoren, die sowohl mit ihren Stücken als auch mit ihren Erzählungen und Romanen ähnlichen Erfolg hatten. Tschechow ist einer von ihnen. Vielleicht auch deswegen, weil er als Arzt und Tuberkolosepatient um die Zerbrechlichkeit und Endlichkeit des Lebens sehr genau wusste. Sein erzählerisches Schreiben ist knapp, nüchtern im Ton, aber hochemotional in den Handlungen. Seine Figuren suchen nach Halt in winterlichen Landschaften. Ihre Geschichten zeugen von einem reichen Erfahrungswissen darüber wie schwer es sein kann ein moralisch gutes Leben zu führen - und wie oft dieser Anspruch verfehlt wird. Dr. Tschechow ist mit seinen Erzählungen ein guter Begleiter in einer Zeit, in der die vielen Prüfungen an Geduld, Integrität und vor allem Gemeinsinn nicht immer leicht zu bestehen sind. Sein Schreiben kann dabei stärkend wirken, auch wenn es schlimme Verfehlungen zeigt, denn Tschechows Empathie ist immer vorurteilslos bei denjenigen, die sich auch schweren Aufgaben mutig stellen. Und das könnte uns allen vielleicht gerade gut tun.
Hubert Schlemmer liest jede Woche eine Geschichte von Tschechow. Diese Geschichte ist dann zwei Wochen lang hier abrufbar. Und so können Sie Tschechow im Ohr haben, solange seine Bühnenpause gerade noch andauert.
Hubert Schlemmer im Gespräch
Wie ist es für dich, ohne direktes Publikum zu arbeiten? Fehlt dir der Applaus?
Film, Funk und Bühne sind drei unterschiedliche, aber miteinander verwandte Genres. Wenn ich im Studio arbeite, weiß ich, dass aufgezeichnet wird. Da fehlt mir auch kein Publikum und auch kein Applaus. Nach der Sendung erfahre ich aber manchmal Lob oder Tadel von Hörer*innen.
Ist die Vorbereitung auf die Lesung eine andere als bei einer Inszenierung?
Bei der Vorbereitung und Aufnahme einer Lesung können kreative Anregungen von Regisseur*in und Kolleg*innen fehlen. Ich muss und will das alles selbst leisten. Ich bin auch für das Ergebnis verantwortlich. Ich habe aber das Glück, einen Toningenieur (Sebastian Franke) zu haben, der nicht nur meine Versprecher rausschneidet, sondern mir auch kreativen Input gibt.
Was muss man fürs Vorlesen besonders gut können?
Jede*r Schauspieler*in hat verschiedene Fähigkeiten, Neigungen und Erfahrungen. Bei der Arbeit im Studio muss man stimmlich mit dem Mikrofon umgehen können und ein besonderes Gespür für Sprache haben. Ich habe das Glück, viel Hörfunk gemacht zu haben und fühle mich im Studio wohl.
Was macht Tschechow als Autor aus?
Tschechow ist gnadenlos und liebevoll zugleich. Als Arzt, der er ist, seziert er gründlich den Menschen in all seinen Schwächen und Untugenden, aber er läßt ihm sein Menschsein, sein Suchen und seine Sehnsucht nach Sinn und Liebe. In seiner Widersprüchlichkeit kann das durchaus auch komisch sein. Aber er läßt ihm seine Würde, er denunziert ihn nicht. Auch in seiner Prosa erschafft Tschechow lebendige Menschen, seine Sprache ist reich und präzise. In jeder seiner Kurzgeschichten entsteht eine ganze Welt.
Hast du Lieblingsgeschichten in unserer Reihe?
Ich habe und hatte keine Favoriten, ich habe mich in jede seiner Geschichten verliebt. Max Löwenstein hat sie ausgesucht, ich fing an, zu lesen und daran zu arbeiten und hatte sofort persönlichen Bezug. Themen und Personen der Kurzgeschichten sind in Variationen auch in den Theaterstücken zu finden und mir daher vertraut. Es sind kleine Dramen.
Wie ist deine Stimmung bei so einer Aufzeichnung zur Zeit – nach fast einem Jahr Lockdown?
Die Arbeit bei der Aufzeichnung einer Lesung macht mir viel Freude. Sie findet ohne Einschränkungen statt, was leider zur Zeit auf der Bühne nicht der Fall ist. Irgendwann wird das auch auf der Bühne wieder möglich sein! Da bin ich optimistisch!