Außenstehende springt vor allem die Sprache an. Wer nicht aus Hessen stammt und sich dennoch in eine Vorstellung des „Datterich“ wagt, wird zunächst irritiert sein und herausgefordert. Und dann wird er sie lieben: Die Mundart, das Rotwelsch, die Alltagsmusik, den himmlischen Einschlag des Pöbelhaften. Dieser bleibt fast unberührt vom Wandel der Zeit, auch in dieser Inszenierung von Philip Tiedemann, auch nach einhundert Jahren Hessischer Spielgemeinschaft , auch nach 184 Jahren „Datterich“.
Die Sprache der Zocker und Kneipenhocker hat eine Gedrängtheit von lapidarem Humor, deren Hose die Sesshaftigkeit langer Nächte und die des nicht übers Hessische hinausreichenden Horizonts. In ihren Herzen jedoch vagabundiert die Endlosigkeit der Welt. Niemand kennt mehr die stets zu leerenden Bembel, die Butzenscheiben und guten Stuben und blankgefegten Dielen der Kneipen, die diese Menschen einschließen.
Hier kämpfen Außenseiter des Bürgerlichen den uralten Kampf gegen die starre Barrikade der kleinen Stadt.
Typen, Typen, Typen… Es ist unsäglich, Saft, Blut, auf- spritzende Kraft, trunkenstes Sein… Das Leben ist zu rund, zu massiv, zu köstlich, als dass es töten könnte. Es scheint als riefen die Typen vom Solo-Kartentisch durch die Jahrzehnte auch uns Spießbürger*innen zu: Redet, wie man nicht reden soll – und ihr werdet unsterblich. Sprecht, wie zu sprechen ihr euch schämet, und ihr kommt ins Paradies.
Und was bleibt? Zieht man die Mundart ab, das Kauderwelsch, das Dammschdädda Platt? Was bleibt dann noch von Ernst Elias Niebergall? Datterich bleibt. Ein Datterich, der nur aufs Hochdeutsche zurückgreift, wenn er versucht, höflich zu sein – und wenn er lügt. Es bleibt der Mensch in der Mitte. Dieser Entgleiste, Geschasste, Vormalige. Dieser Erdensohn gewordene Süffel. Er hat etwas bestürzend Lebenstreues. Er ist eine Sonne, die es unter Spießbürger verschlagen hat und die unter ihnen nichts sucht als möglichst viel Wein. Und was bleibt mir? Mir bleibt die bestürzend lebenstreue Erinnerung an einen anderen Verkommenheitsengel.
Bei Niebergall stimmen die Handlanger in der Kneipe das hessische Sauflied „Lustig, ihr Brüder“ an. Eine spätere Variante dieses Volkslieds, „Das Lied der Pariser Kommune“, interpretiert Thomas Friz in den 1970er Jahren auf Burg Waldeck im Hunsrück. Dort, nicht einmal einhundert Kilometer nordwestlich von diesem Theater, hat er mit seinem Liedermacherduo Zupfgeigenhansel auf einem Freiluftfestival gesungen, gefeiert, getanzt, getrunken. Das Pathos ist dem Dialekt nicht gewachsen. Dank seiner stilbildenden Mundart ist und bleibt „Datterich“ dem Darmstädter Fixstern und Verkommenheitsengel. Drum leget Eure Sorgen nieder, trinkt dafür ein gut’s Glas Wein! Seit August 2023 schwebt auch Thomas Friz über dem Dunst. Er war mein Onkel.
- Kornelius Luther (Dramaturg)
Datterich
Darmstädter Lokalposse zum 100-jährigen Jubiläum der Hessischen Spielgemeinschaft 1925 e.V. / Eine Produktion des Staatstheaters Darmstadt unter Mitwirkung der Hessischen Spielgemeinschaft 1925 e.V. / ab 10 Jahren
REGIE Philip Tiedemann
BÜHNE & KOSTÜM Alexander Martynow
MUSIK / KOMPOSITION Timo Willecke
MUSIKALISCHE EINSTUDIERUNG Silvia Willecke
DRAMATURGIE Kornelius Luther
Premiere am 14. Juni 2025, 19:00 Uhr | Terrasse Großes Haus
Weitere Termine: 18., 20., 22., 25., 26. & 29. Juni, 01. & 02. Juli