Ein Gespräch zwischen dem Regisseur Kieran Joel und der Dramaturgin Margrit Sengebusch zum Stück „Jedermann ist niemand und niemand ist Jedermann“.
Du überschreibst „Jedermann“ von Hofmannsthal für das Staatstheater Darmstadt neu. Worum geht es in dem Stück und was hat es mit heute zu tun?
Es geht um die Sinnfrage des Lebens. Wofür lebt man? Lebt man des eigenen Vergnügens willen oder knüpft man sein Leben an eine größere Aufgabe? Was wir machen wollen, ist ein Jedermann 2.0. Der alte Jedermann ist nicht mehr gültig, die Welt ist zu komplex, es muss ein neues Mysterienspiel geben. Ich habe mal in einem Brief von Hofmannsthal gelesen, dass die christliche Frage gar nicht die große Frage in dem Stück ist, sondern, im philosophischen Sinne, die materielle Frage: Wie zu leben? Religion ist eine Verabredung und Gott die erste Illusion.
Eine Idee von Dir ist, dass mehrere Darsteller*innen den Jedermann spielen …
Das Thema ist auch: Wer kann eigentlich für wen sprechen? Jeder Mensch ist eine eigenkomplexe Insel. Es geht um diese Paradoxie. Es gibt drei Spieler*innen, die alle das Gleiche sagen, aber sich für total individuell halten. Vier Jedermänner sind dann eine Supernova der Eigenkomplexität. Wir haben heute einen Jedermann, der das, was er macht, nicht mehr naiv macht. Das ist eine neue Evolutionsstufe.
Jedermann hat eine Schatztruhe, die beispielhaft für seinen Reichtum steht. Warum reicht die Schatztruhe in einer heutigen Erzählung nicht mehr aus?
Weil nicht nur die Menschen sich verkompliziert haben, sondern auch die Welt. Heute gibt es Supermilliardäre, die ein Vermögen haben, das kein normaler Mensch sich mehr vorstellen kann. 115 Billionen (115 000 Milliarden), die Jeff Bezos, der Gründer von Amazon, besitzt. Ein Milliardär hat einen ökologischen Fußabdruck von 48 T und der Durchschnitt 4 T. Diese Menschen sind beides gleichzeitig, sie sind der Auslöser für Ungerechtigkeit, sichtbare und unsichtbare Ausbeutung und Klimawandel, und die, die uns retten müssen. Der Jedermann hat zwar konsumiert, der kannte aber keine Konsumkritik.
In der Vorbereitung hast Du oft das Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“ herangezogen. Darin geht es u. a. um das Herstellen von Einzigartigkeit und dass das ein Konstrukt ist. Ist der Jedermann einzigartig?
Die Aufführung ja. Sie wird immer eventisiert: Es ist ein besonderer Cast, es ist besonders singulär. Bei gleichzeitigem Versuch, etwas komplett Allgemeines zu erzählen. Ein Kokon des Singulären mit der Botschaft des Allgemeinen. Und Drumherum gibt es Interviews und ein Tohuwabohu darum, wer das jetzt spielt. Das Allgemeine und Besondere clashen die ganze Zeit. Die Bühne, die Barbara Lenartz, entwirft, wird auch bei uns ein Eventpark. Wir nehmen das Salzburger Bühnenbild und eventisieren das. Eigentlich ist die Vervielfachung von Jedermann das konsequente Weiterdenken. Durch die Suche nach einem ganz besonderen Schauspieler wird das Stück eigentlich beschädigt.
Was hat es für einen Effekt, dass der Jedermann so ein Event in Salzburg ist?
Es ist eine Eventisierung der Auseinandersetzung. Ich muss immer an Baudrillard denken, der sagt, Disneyland existiert nur, um uns glauben zu machen, dass der Rest real ist. Und der Jedermann täuscht auch darüber hinweg, dass wir das ja sind. Das ist bei Dialektik der Aufklärung der Gedanke: Kunst ist nicht Flucht „vor der schlechten Realität, sondern vor dem letzten Gedanken an Widerstand, den jene noch übriggelassen hat.“ Der Jedermann ist kein revolutionärer Funke, er ist das Gegenteil, er beruhigt uns. Es gibt keinen Jedermann mehr. Unsere Realität ist nichts anderes als die fiktive Hölle in Hofmannsthals „Jedermann“.