Alexander Kohlmann
Martin, in Krieg und Frieden werden deutlich über 100 Protagonistinnen eingeführt. Ein ganzes Zeitalter zieht am Leser vorbei. Tolstois Anspruch war es, nicht nur einen Roman zu schreiben, sondern im Prinzip ein Stück Leben aus einer anderen Epoche in Literatur zu verwandeln. Wie bringt man so einen Stoff auf die Bühne? Wie viele Schauspielerinnen werden wir erleben?
Martin Laberenz
Solche Stoffe sind zunächst einmal eine Überforderung, und zwar für alle Beteiligten: zweitausend Seiten Handlung, Reflexion, Philosophie und Leben, erzählt über annähernd zwanzig Jahre – von den Koalitions- kriegen bis kurz vor dem Dekabristenaufstand. Das lässt sich nicht einmal annähernd nacherzählen. Aber es gibt grundlegende, metaphysische Fragestellungen, anhand derer man den Roman untersuchen kann:
Was kann ich wissen? Was kann ich tun? Was darf ich hoffen? Und daraus abgeleitet: Was ist der Mensch? Damit auch diese Fragestellungen nicht ins Uferlose abgleiten, habe ich als Ausgangspunkt Tolstois Pro- blemstellung vom Beginn des dritten Buches gewählt: 1812 überschreitet die Grande Armée die Grenze Russlands – wie konnte es dazu kommen? Was sind die Ursachen? Gibt es überhaupt Ursachen? Warum fragen wir nach Ursachen? Und was sagt dieses Fragen über uns aus? Diesen Fragen möchte ich mit (ledig-lich) acht Spieler*innen nachgehen.
Alexander Kohlmann
Worum geht es aus deiner Sicht überhaupt in Krieg und Frieden?
Martin Laberenz
Tolstoi hat selbst gesagt: „Krieg und Frieden ist das, was der Autor ausdrücken wollte und konnte, in der Form, in der es ausgedrückt ist.“ Natürlich ist es meist wohlfeil, sich bei der Frage, worum es denn geht, solcher Tautologien zu bedienen – zumal sie auch noch vom Autor selbst stammen. Aber in diesem Fall triff sie den Kern des Unternehmens: Um zu wissen, worum es in Krieg und Frieden geht, muss man Krieg und Frieden bis zum Ende lesen, muss man dessen Gang nachvollziehen. Ein wenig erinnert es an das, was Hegel über seine Phänomenologie des Geistes schreibt: Es gibt nicht den einen erzählten Grund, den einen thematisch-inhaltlichen Kristallisationspunkt, sondern „nur“ die Gesamtbewegung.
Alexander Kohlmann
Das heutige Russland führt seit über zwei Jahren einen furchtbaren Angriffskrieg gegen die Ukraine und begründet das mit paranoid wirkenden Bedrohungs- szenarien durch den Westen. In Tolstois Text wieder- um wird Russland von Frankreich, verkörpert durch die Figur Napoleons, angegriffen. Siehst du Bezüge zwischen den beiden Szenarien?
Martin Laberenz
Tolstoi beschreibt eine Situation, in der der Westen - und mit Westen ist vor allem das Frankreich der Aufklärung und der französischen Revolution gemeint - in Russland einfällt. Napoleon erscheint dabei lange, vor allem im ersten Band, als ein Fluchtpunkt, in dessen Richtung sich die Obsessionen, Verklärungen, Ängste und Überheblichkeiten der russischen Gesellschaft konzentrieren. Eine Projektionsfläche der eigenen Befindlichkeiten. Im zweiten Band tritt er dann als Individuum auf, dessen Handlungsspielraum genauso beschränkt ist wie derjenige eines jeden Individuums. Das scheint mir ein sehr aktueller Themenkomplex zu sein.
Alexander Kohlmann
Tolstois Text ist über weite Strecken auch ein Gesellschaftsroman, der das vorrevolutionäre Russland überaus anschaulich lebendig werden lässt. Was fan- gen wir heute mit diesen Geschichten an?
Martin Laberenz
Mal sehen. Das möchte ich mit dem Ensemble während der Probenarbeit herausfinden.
Alexander Kohlmann
Noch einmal zur Bühne. Mit Krieg und Frieden kehrt das Schauspiel auf die riesige Bühne des Großen Hauses zurück. Wie gehst du mit einem solchen Ort um, der ja eigentlich für Musiktheaterproduktionen mit großen Chören und einem Orchester gebaut worden ist?
Martin Laberenz
Gute Frage. Ein Vorteil scheint mir sicherlich zu sein, dass ein so großer Raum erfahrungsgemäß viel erzählt, wenn ein „kleiner“ Mensch darin erscheint. Und in Krieg und Frieden geht es ja auch darum: das einzelne Individuum in der Weite und Leere des Raumes. Man denke etwa daran, wie Napoleon in Moskau ankommt, und keiner ist mehr da: Er steht am Schlagbaum, probt innerlich seine Rede, voll Güte, voll aufgeklär- tem Humanismus - und keiner kommt, während seine Generäle aushandeln, wer es ihm sagt. Dieses Pathos der eigenen Überzeugung, den Raum bezwingen zu können, und die daraus entstehende Lächerlichkeit dabei, interessiert mich. Der riesige Bühnenraum könnte dabei ein gutes Werkzeug sein. Er gibt einen Rhythmus vor, eine Erzählweise, aber auch eine eigene Erzählung, die ich nutzen möchte.
Krieg und Frieden
von Leo Tolstoi in einer Fassung von Martin Laberenz unter Verwendung der Neuübersetzung von Barbara Conrad / ab 14 Jahren
REGIE Martin Laberenz
BÜHNE Oliver Helf
KOSTÜM Adriana Braga Peretzki
MUSIK / KOMPOSITION Johannes Hofmann
DRAMATURGIE Alexander Kohlmann