Wie kam es zu dem Vorhaben, eine Oper über Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“ zu schreiben?
Der Librettist Alexander Jansen und ich waren schon immer begeistert von diesem Stoff, weil er uns eine groẞe Freiheit bietet. Wir beide sind fasziniert von Fantasiewelten, weil man darin tun und lassen kann, was man möchte. Uns ging es nicht um eine 1:1-Umsetzung der „Alice“-Geschichte von Carroll – das wäre auch gar nicht möglich oder sinnvoll gewesen. Wir haben den Reichtum von Carrolls Büchern wie einen groẞen Baukasten benutzt, und haben uns daraus unsere eigene Version von „Alice im Wunderland“ zusammengebaut.
Es ist ein Stück für 3 Sänger*innen und vier Instrumente. Warum hast du gerade diese Instrumente gewählt?
Mit der Instrumentenauswahl wollte ich ein möglichst großes Spektrum an Klangfarben und musikalischen Stilen abdecken, von der sogenannten „Klassik“ bis hin zu Popsongs. Es gibt nur ganz wenige Stücke, die die komplette Instrumentalbesetzung verwenden. Für fast jeden der 16 Songs habe ich eine individuelle Kombination von Instrumenten und Stimmen gewählt – jede Besetzung kommt nur einmal vor. Ich habe also die ohnehin schon eingeschränkten musikalischen Mittel noch weiter reduziert, um einen größeren Abwechslungsreichtum zu bekommen. Diese konstruktive Strenge ist auch eine Hommage an den Mathematiker Lewis Carroll.
Alice begegnet im Wunderland einer Reihe von seltsamen Gestalten. Der Untertitel „Songzyklus“ verrät schon die Besonderheit der Form. Inwiefern?
Das Stück ist eine Mischung aus einem Liederzyklus und einer Kammeroper. Als Opernkomponist interessieren mich nicht so sehr lineare Erzählungen, sondern kaleidoskopartige Formen. Jede Szene kann als eigenständiges Stück für sich alleine stehen, so ähnlich wie wir das aus der Barockoper kennen. Es ist kein realistisches Theater, sondern ein Spiel der Zeichen und Symbole.
Als Komponist eine „eigene Handschrift“ oder einen „Personalstil“ zu besitzen, finde ich langweilig – dann müsste ich mich ja auf eine einzige Art des Komponierens beschränken. Stattdessen habe ich für jede Szene eine Musik komponiert, die mir dafür passend erschien – eine mäandernde Klarinettenmelodie für die bekiffte Raupe, ein Zwölfton-Wiegenlied für die böse Herzogin, einen Blues für die Grinsekatze und so weiter. Die Musik verkleidet sich andauernd, wie es auch die Darsteller*innen auf der Bühne tun. Die musikalische Identität des Komponisten bleibt letztlich im Dunkeln.
Vor allem Mezzosopran und Bariton schlüpfen in viele unterschiedliche Rollen. Manchmal sind sie auch reine Erzählerfiguren. Ist das ein wichtiges Element?
Die erzählenden Elemente sind wichtig, um eine Distanz herzustellen. Unser Stück soll keine Illusion erzeugen, sondern deutlich machen, dass es sich um ein Spiel handelt – ein Spiel mit Sprachen und Identitäten, mit Sinn und Unsinn.
Wir spielen „Wunderland“ für Kinder ab 8 Jahren. Ist der Stoff zwangsläufig nur für Kinder gedacht?
Alexander Jansen und ich haben uns nie Gedanken darüber gemacht, ob das Stück für Kinder oder für Erwachsene sein soll. Stattdessen haben wir es einfach so geschrieben, wie es uns am meisten Spaẞ gemacht hat.
Das Stück erzählt einen Abschied von der Kindheit: Alice hat am Ende gelernt, sich ihrer Fantasie bewusst zu bedienen, und gewinnt dadurch an Selbständigkeit, sie verlässt den Schutzraum des Kindlichen. Allerdings kommt diese Interpretation des „Alice“-Stoffes wiederum aus einer sehr erwachsenen Perspektive.
Ich finde, man sollte nicht immer versuchen, alles zu verstehen. Kunstwerke sind ihrem Wesen nach unverständlich. Es führt in die Irre, sich ihnen ausschließlich über den Weg des kognitiven Verstehens zu nähern. Gerade das Musiktheater lädt uns dazu ein, es mit allen Sinnen zu erleben. Dazu braucht es Neugier und Offenheit – und davon bringen Kinder oft mehr mit als Erwachsene.
Das Gespräch führte Dramaturgin Isabelle Becker.