Regisseur Philipp Preuss im Gespräch mit Schauspieldirektor Alexander Kohlmann über die Arbeit an Kafkas „Der Prozess“, das Unbewusste und die Lust an abgründigen Theaterabenden

Alexander Kohlmann: Philipp Preuss, Du beschäftigst Dich bereits seit vielen Jahren mit Kafka und hast mehrere seiner Texte für die Bühne adaptiert. Was interessiert Dich so sehr an diesen Werken, die ja eigentlich nicht für das Theater geschrieben worden sind?

Philipp Preuss: Kafka ist einer der ersten Autoren, die unbewusste und traumhafte Vorgänge künstlerisch bearbeitet haben. Seine Werke spielen immer auf einer Bühne, einer inneren Bühne. Was mich besonders interessiert, dass es bei ihm nie nur um einen Surrealismus als bloße Kunstform geht, also keine l´art pour l 'art, die nur um sich kreist und dabei schöne Bilder generiert, sondern immer Hierarchien, Triebstrukturen, Kommunikationsversuche untersucht werden. Es geht bei ihm um Ohnmacht und Macht in allen Facetten, seien diese beruflich, zwischenmenschlich, sexuell, hierarchisch. Das empfinde ich als enorm politisch.

Alexander Kohlmann: Ist Kafkas Werk vor dem Hintergrund der weltpolitischen Lage heute aktueller als vor 10 bis 15 Jahren?


Philipp Preuss: Ein Klassiker ist Klassiker und immer aktuell, da er universelle Fragen stellt,  die offenbar noch immer nicht beantwortet sind. Ja und jetzt im Angesicht von neofeudalem Faschismus, Konzernaristokratien und Diktaturen, wo Menschen einfach verhaftet werden und verschwinden, sind die Texte absolut akut und dringlicher. Und wir Individuen, in Daueraktualität durch Medien, Technologie, Stichwort KI und Überwachung in unseren Echokammern im medialen Dauerloop gefangen, erleben uns in einem scheinbar immer undurchschaubareren, unlesbareren System. Und wie Josef K., sind wir da keine bloßen Opfer dieses Systems, sondern gleichzeitig auch dessen Produzenten.


Alexander Kohlmann: Kafkas Romanfragment "Der Prozess" ist oft als eine Abrechnung mit einer alptraumhaften Bürokratie beschrieben worden, es gibt aber auch Interpretationen, die die Erzählung stark mit Kafkas persönlicher Biografie verknüpfen. Was für eine Geschichte ist es aus Deiner Sicht?

Philipp Preuss: Der Roman kann auf mehreren Ebenen gelesen werden. Politisch im Sinn eines totalitären Überwachungssystems, metaphysisch im Sinne eines religiösen Systems, existentialistisch im Sinne eines inneren Gerichts vor sich selbst, die endlosen alptraumhaften Gänge in den Gebäuden als Gedankengänge über Schuld, Scham, Leben und Tod quasi. Kafka vermeidet die fixe, konkrete Zuschreibung seines Werks, er lässt es offen für Interpretation, es bleibt in einer Schwebe, sodass wir die Rezipienten immer auch Mitautoren werden und diese Ebenen zusammendenken. Ich mag die künstlerische Grundannahme, dass ein Werk im Kopf eines Autors, einer Autorin entsteht. Mit all seinen Figuren. Es gibt hier dann also nicht unbedingt realistische Figuren, sondern die Figuren sind Fantasien, Varianten, eines Autors, einer Autorin, das ist eine große Freiheit. Und so ist das Gericht von Josef K. vielleicht sein unbewusstes Kopfgericht, in dem Anklage und Verteidigung auftreten und viele Gedankenfiguren auf abwegigen Gedankengängen wandeln. Der einzelne Josef K. kann da auch mehrere sein und eventuell steht K. ja ohnehin für Kollektiv. Politisch gesehen ist erschreckend, wie Kafka die Tragödie der Shoa antizipiert, die Anonymisierung, die totale Macht, Josef K. als Homo Sacer. Und doch ist diese Bürokratie bei ihm ideologiebefreit. Er beschreibt die Bürokratisierung vielmehr als universelle Mechanik, als Gesetz, das ist fast noch erschreckender. Der Begriff Prozess selbst ist ja auch doppeldeutig, es ist ein juristischer Begriff, aber eben auch ein Vorgang, eine Veränderung, eine Verwandlung, ein Rite de Passage.

Alexander Kohlmann: Wie bebildert man derartige Unbewusste Vorgänge auf der Bühne? kann man Träume überhaut in einer Theater-Inszenierung realisieren?

Philipp Preuss: Träume sind nicht beliebig, sie haben eine Struktur, eine Sprache, eine Grammatik. Wir als Team versuchen seit einigen Jahren durch verschiedene Elemente wie Raum, Musik, Kostüm, Video, und formale Spielformen des Unbewussten diese Träume bzw. Trips erlebbar zu machen. Die Sprache zum Beispiel wiederholt sich, wird fragil, es gibt freudsche Verbrecher, Doppeldeutigkeiten, Doppelgänger, das Heimliche wird unheimlich usw. Die Spielerinnen und Spieler folgen einer eigenen Spiellogik, sie dürfen ihrer Spiellust der Verwandlung frönen, so wie der Abend einer eigenen intrinsischen Traumlogik folgen sollte, das ist ein, Vorsicht, Prozess, gemeinsam mit dem Publikum. Das kann naturgemäß auch immer scheitern. Das ist ja das Großartige am Theater. Schlussendlich geht es bei unbewussten Vorgängen im Theater um einen imaginären gemeinsamen Vorgang, der erlebt und schwer beschrieben oder als Fertigprodukt verkauft werden kann.

Alexander Kohlmann: Draußen ist bald Sommer, drinnen bearbeiten wir abgründige Themen. Warum kann Dein Kafka-Abend Spaß machen?


Philipp Preuss: Spaß ist so eine Sache, eine Art ungedeckte künstlerische Kryptowährung. Jeder hat ja bei anderen Sachen Spaß. Mir macht ein David Lynch Spaß. Es gibt bei Kafka viel leisen Humor, dieses pedantische, das slapstickhafte. Aber ja Kafkas Humor hat oft auch etwas grausames, es ist ein Lachen über dem Abgrund.
 

Theater, Kino, Malerei, Pornografie“


Philipp Preuss: Kafka war übrigens ein Autor, der entgegen des tristen Klischees nicht abgeschirmt vor sich hinschrieb als Kunstmonade, sondern die Welt gierig aufsog: Politik, der erste Weltkrieg, Theater, Kino, Malerei, Pornografie, seine Verlobung mit Felicias Bauer, die Psychoanalyse, sein Job in der Versicherung, Musik, seine Freunde, Lachen, Weggehen in Prag, dazu noch der jüdisch-orthodoxe Background, die Kabbala. All das mündete in eine komplett originäre künstlerische Form. Ich mag diesbezüglich auch seine universelle Sicht auf die Lebewesen, eine Sicht, die Mensch und Tier zusammendenkt. Da werden ein Kafka und die posthumanistische Philosophie einer Donna Haraway plötzlich zu interessanten Komplizen. Und das Unverschämte und Unkontrollierte von Träumen macht ja  auch sehr viel Freude.