Leonid Hrabovsky gehört zu den eindrücklichen musikalischen Stimmen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die „Four Ukrainian Songs" für Chor und Orchestra (1959) waren seine Diplomarbeit am Kiewer Konservatorium; mit ihnen gewann er im sowjetischen Kompositionswettbewerb den ersten Preis und löste eine neue „Folklorewelle“ in der ukrainischen Musik aus. Schostakowitsch schrieb über den Liedzyklus: „Die Ukrainischen Lieder von Hrabovsky gefielen mir ungemein – seine Arrangements zogen mich durch die Freiheit der Behandlung und den guten Chorsatz an“.
Leonid Hrabovsky wählte vor allem für seine späteren Kompositionen nicht den sowjetischen Stil, sondern näherte sich vielmehr den seriellen Kompositionsweisen der Moderne an – wofür er in den 1960/70er Jahren viel Kritik einstecken musste. Im Jahr 1990 emigrierte er in die Vereinigten Staaten, wo er bis heute lebt und arbeitet.
Die „Four Ukrainian Songs“ sind vor etwa 60 Jahren entstanden – als Abschlusswerk Ihres Musikstudiums in Kiew, doch sie haben sich mit der Zeit entwickelt. Wie fühlt es sich an, das Werk nach all den Jahren immer wieder neu aufgeführt zu sehen?
Hrabovsky: Am Anfang, als meine Lieder 1965 in den Druck gingen, hatten sie textlich einen sehr deutlichen sowjetischen Stempel: über ein gutes sowjetisches Regime, das Glück und Freiheit für alle Nationen bringt. Nachdem die Ukraine ihre Unabhängigkeit erlangt hatte, wollten wir all jene Merkmale des Sozialismus und seiner Ideologie ausjagen; darum haben der Dichter Viktor Hrabovsky und ich alle Texte – ausschließlich das Wiegenlied, das von Gogol stammt – ganz und gar revidiert. Und überraschend genug: all unseren neuen Texte klingen nun außerordentlich up to date und erscheinen sehr passend zu unserer aktuellen Situation. Unter uns: Als Putin den Zerfall der Sowjetunion eine geopolitische Katastrophe genannt hat, war unterbewusst das Gefühl längst da, dass Russland versuchen würde, die Ukraine zurück in eine UdSSR zu bringen.
Was hat sie damals zu den Liedern bewegt? Und wie hat sich Ihre Beziehung zur ukrainischen Volksmusik entwickelt?
Hrabovsky: In unseren slawischen Ländern ist die Volksmusik sehr breit und reich entwickelt. In der berühmtesten Sammlung ukrainischer Musikfolklore in sieben Bänden, sind etwa 200 oder 300 Lieder in jedem Band; und das ist nur ein Partikel des ganzen Ozeans ukrainischer Folklore. Der weltberühmte Dirigent Leopold Stokowski zählt in seinem Buch „Musik für uns alle“ über eine Million ukrainische Volkslieder auf, auch für mich war das überraschend! Speziell ein wichtiges Muster für meine Ukrainischen Lieder waren Rachmaninows „Drei Russische Lieder“, die er 1927 geschrieben hat.
Faktisch waren die „Vier Ukrainischen Lieder“ ein Abschied für mich von der der alten impressionistischen Epoche und ihrer Schreibweise. Meine folgenden Werke waren zwölftönig, seriell, mit Zufallsserien, und vielleicht hat man den Eindruck, dass das Werk das Ende der Einbeziehung ukrainischer Volksmusik war. Aber tatsächlich habe ich nach 20 Jahren neue Methoden in der Komposition mit Folklore entwickelt; eine neue Welle, wie es auch bei Ligeti war, der sich später wieder deutlich der ungarischer Musik zuwendet und sie in seinen neuen Stil einbezieht.
Sie sind aus den Vereinigten Staaten extra für die Aufführung nach Darmstadt gereist. Worauf freuen Sie sich am meisten?
Hrabovsky: Ich freue mich sehr darüber, hier zu sein. Darmstadt war für uns alle unserer Musikepoche schon immer ein Symbol. Richard Taruskin schreibt in seiner sechsbändigen Musikgeschichte ein großes Kapitel zu Schdanivism und Darmstadt. Andrei Schdanow war Stalins rechte Hand und verantwortlich für jene ideologischen Postulate und Normen zu sowjetischer Musik sowie Verbannungen und drakonische Strafen. Komponisten wie Schostakowitsch, Prokofjew, Chatschaturian und mein Lehrer Lyatoshynsky hatten alle Probleme mit jenen Formalisten und waren immer wieder an der Grenze zum Arrest oder kurz davor, in Konzentrationslager geschickt zu werden. Vielleicht 70% von der Musik wurde verboten. Und Darmstadt war also genau das Gegenteil.
Auch heute scheint Darmstadt eine sehr angenehme Stadt zu sein, mit freundlicher Atmosphäre, stillen Seitenstraßen. Besondere Freude habe ich gefühlt in einem Bistro in der Wilhelminenstraße, hier beobachtete ich Leute, Kinder, Hunde und das Straßenleben. Und ein großes Vergnügen war auch die Gesellschaft von Chordirektorin Ines Kaun, Kapellmeister Johannes Zahn und Orchesterdirektor Gernot Wojnarowicz, mit denen ich die Proben auf dem Georg-Büchner-Platz verbringen durfte.
Was haben Sie noch vor? Was inspiriert Sie heute?
Hrabovsky: Gestern war ich in „Lohengrin“ am Staatstheater Darmstadt und war so beeindruckt von den tollen, modernen technischen Möglichkeiten und Bühnensystemen. Und ich dachte in dem Moment an meine alte Idee: eine „operatische Pentalogie“, basierend auf Gogols Schaffen. Die Hauptidee besteht darin, die Entwicklung Gogols von lieblicher ukrainischer Folklore hin zur absolut dystopischen fremden Russland-Welt zu zeigen. Die erste Oper ist tatsächlich schon geschrieben, sie heißt: „Die tote Seelen“. Aber ich gebe sie niemandem zur Aufführung, bis ich alle fünf Opern fertiggestellt habe.