Gustav, was interessiert Dich an Tom Lanoyes Überschreibung von Shakespeares bekannter Tragödie „König Lear“? Der „Lear“-Stoff ist eine so große und auch rätselhafte Menschen-Geschichte. Sie betrifft, berührt und verstört durch ihre zeitlose Dramatik die Menschen immer wieder aufs Neue. Dadurch dass Lear bei Lanoye eine Frau ist, entstehen ganz neue Möglichkeiten, die Beziehungen zu den Kindern (jetzt – statt wie im Original Töchter – Söhne!) zu erzählen. Außerdem spielt das Thema „Alters-Demenz“ in der Bearbeitung eine viel konkretere Rolle als bei Shakespeare. Viele Menschen, auch ich, haben mit Demenz in ihrer engsten Umgebung zu tun. Dass Lear eine mächtige Frau ist, die merkt, dass etwas mit ihr nicht stimmt, die von ihrer Familie, die sie ihrerseits über Jahre mit emotionaler Kälte misshandelt hat, im Stich gelassen wird, kaum ist sie verwirrt und schwach, berührt mich sehr. Das Ganze findet vor dem Hintergrund eines Zusammenbruchs von Wirtschaft und Natur statt.
Du hast 2019 mit deiner „Othello“-Inszenierung in Darmstadt ein großes Publikum begeistern können. Wie ist für dich der Zusammenhang zwischen diesen beiden Arbeiten? Die Arbeit an „Othello“ hat mich endlich als Regisseur mit Shakepeare zusammengebracht. Die Bearbeitung von Lear ist jetzt noch radikaler und konzentrierter als die von Othello. Und trotzdem ist alles, was mich an Shakespeare interessiert, da drin: die sprachliche Kraft, der Bilderreichtum und die direkte Gewalt der Sprache. Eine poetische Höhe und das gleichzeitige Nebeneinander von tief dunklen, existenziell menschlichen und albernen, vulgären und leichten Szenen und Situationen. Das ist für mich die Quintessenz: Menschen können das alles sein und Theater kann das alles zeigen. Sowohl bei „Othello“ und auch jetzt bei „Lear“ versuchen wir, die Konflikte ins Heute zu holen und trotzdem die zeitlose Kraft und Dynamik eines Klassikers als emotionales Erlebnis für das Publikum erfahrbar zu machen.
Was bedeutet es für dich, dass Tom Lanoye eine Frau in die Machtposition bringt, die im „König Lear“ ja von einem Patriarchen alten Schlages besetzt wird? Das bedeutet für mich eine neue Chance für dieses Stück. Mich würde es mit einem Mann besetzt nicht interessieren. Die Figur wird so vielschichtiger und zerrissener. Sie ist in vielen Rollen gefangen: die Wirtschaftskapitänin, die Politikerin, die sich immer gegen Männer durchsetzen musste, eine Mutter von drei Söhnen ohne anwesenden Vater, die Liebhaberin, die Milliardärin, Rollenvorbild für Frauen und Patriarchin alten Schlages gleichzeitig. Böse Schwiegermutter und schwache Kranke. Und sie versucht, sich von diesen ihr zugewiesenen Rollen zu befreien. Es ist überfällig, dass es für erfahrene Schauspielerinnen jetzt auch solche Rollen gibt, in denen sie all diese Dinge ausloten können.
Deine Inszenierung wird inklusiv sein für ein gehörbeeinträchtigtes /gehörloses Publikum. Was bedeutet das genau für das szenische Geschehen? Meine Vorstellung war, dass jemand wie Lear heutzutage, genauso wie Politiker*innen in Pressekonferenzen eine Gebädensprachdolmetscherin an ihrer Seite hätte, wenn sie die Nachfolgeregelung für den Konzern bekannt gibt. Im Stück eingeschrieben ist eine Figur namens Olga, sie ist Lears Pflegerin, Assistentin und Gesellschafterin. Und in unserer Lesart eben auch Lears Gebärdensprachdolmetscherin. Damit ist die deutsche Gebärdensprache nicht an den Rand des Geschehens, sondern mitten in die Handlung gesetzt. Olga übersetzt simultan an Lears Seite, sie ist Teil der Handlung und hat eine Beziehung zu allen Figuren der Geschichte. Mich interessiert dabei sowohl, dass es so (und durch Übertitel) einem gehörlosen Publikum möglich ist, der Geschichte zu folgen, als auch was die Gebärden für ein theatrales Potential haben. Lear spricht unglaublich viel. Ihre Sprache ist groß und vor allem zu Beginn hart und kalt kalkuliert. Im Laufe des Stückes ändert sich ihre Sprache, sie wird gleichzeitig immer verwirrter und immer hellsichtiger und Olga begleitet sie und uns mit ihren Gebärden dabei, endlich eine Sprache des Herzens zu finden.
Die Fragen stellte Produktionsdramaturg Maximilian Löwenstein