Lucrezia / Faust et Hélène

Lena, wie würdest du die Musik von "Lucrezia" beschreiben? 
Händels Musik ist kühn, überraschend, vielfarbig, zerrissen, kraftvoll, wild und zerbrechlich. Es gibt sängerisch viele Freuden und Herausforderungen: atemberaubende Koloraturen, schier endlose Atembögen, kühne harmonische Wendungen, spannende intonatorische Klippen …

Wie hast du diese Rolle erarbeitet?
Was mich bei Lucrezia von Anfang an bewegt hat, war: Wenn ich mich in die Geschichte ungeschützt hineinversetze, kann ich erstmal nicht mehr singen. Wäre ich im wirklichen Leben in solch einer Situation, würde dies Atemlosigkeit, Weinen, Verstummung bedeuten. Ich finde mich also in einer Gratwanderung zwischen Authentizität in der Darstellung und dem Ausfüllen einer Kunstform. Diese Form ist aber auch eine Hilfe: Die Emotionen sind in musikalische Formen „gebändigt“. Dieser Umwandlungsprozess hilft, mit dem Unfassbaren umzugehen, es sagbar, singbar zu machen, und nicht einfach zu verstummen oder von den Emotionen überwältigt zu werden.

Ich habe die Musik in Venedig erarbeitet, zunächst rein mental, darauf folgte die Zusammenarbeit mit den Kolleg*innen am Haus. Spannend war auch ein Coaching mit Sonia Prina, die mir neben allen wichtigen gesangstechnischen Tipps vermittelte: Den Weg von einer guten Sängerin zu einem „Rockstar“ findest du, wenn du dich traust, 100 % du selbst zu sein und deine Geschichte zu erzählen. In diesem Sinne war es mir wichtig, im modernen Bühnenbild, mit antikem Stoff und barocken Libretto, einen „heutigen“ Subtext zugrunde zu legen, der die gesungenen Worte nahbarer macht und an „meine“ Lucrezia anbindet.

Was war dir und Regisseurin Mariame Clément für die Inszenierung wichtig? Worüber habt ihr nachgedacht?
„Lucrezia“ ruft überholte Begriffe wie „Ehre“ und „Schande“ ins Gedächtnis zurück. Sicher haben sich diese Begriffe im Laufe der Jahrhunderte gewandelt, doch gewisse Grundmuster haben sich nicht geändert. Eine Vergewaltigung ist ein Trauma, eine fundamentale Verletzung, körperlich und seelisch, die mit Selbstzweifeln, Selbsthass, Ekel, Schuldgefühlen, Scham, Wut, Rachegelüsten, Depression oder suizidalen Gedanken einher-geht. Doch am Ende kann im Durchgang durch diese Emotionen – ich folge hier der französischen Feministin Virginie Despentes – zur Entdramatisierung und dadurch eine neue, unerhörte Freiheit entstehen. Das hat Mariame von Anfang an angestrebt und dem fühle ich mich sehr verbunden: Unsere Lucrezia bleibt nicht Opfer, bringt sich nicht aus dem erdrückenden Gefühl des „Ehrverlustes“ um, sondern findet im Durchgang durch die Todesgedanken ein neues Ja zum Leben.


Solgerd, wie würdest du die Musik von Lili Boulanger beschreiben? 
Obwohl Lili Boulanger natürlich ein Wunderkind war und sehr besonders, höre ich Vieles, mit dem ich mich identifizieren kann – wir waren ja alle mal 19, wenn auch keine Wunderkinder. Es gibt eine Menge Passagen, die ihre Inspiration erkennen lassen: „Parsifal“, „Pelléas“, „Tristan“. Dazu quellt das Stück über an ungezügelter Leidenschaft, die sich in dem bombastischen, aber immer sehr gut orchestrierten, Orchestersatz und in den emotionalen Gesangslinien zeigt. Lili spielte viele Instrumente und hat auch gesungen, sie war von Kindheit auf von Musiker*innen umgegeben. Es ist wohl kein Wunder, dass das Stück zwar vokal sehr anspruchsvoll ist, gleichzeitig aber sehr cantabile, singbar.

Und wie ist ihre Musik für Hélène? 
Hélène zu singen, ist ein spätromantischer Genuss! Lili malt ihr Aufwachen sehr deutlich musikalisch aus. Die Partie fängt langsam, träge und tief an. Sie steigert sich mit ihren mehr und mehr aufgewühlten Emotionen bis in den höchsten Ton der Partie, vier Takte bevor sie stirbt, oder zurückgezogen wird in die Antike, aus der sie kam. Es gibt tatsächlich nur ein paar wenige Takte, in der die Partie der Hélène unter Umständen etwas zu tief geschrieben ist, wo selbst eine überzeugende Erda nicht hinreicht. Das ist für so eine junge Komponistin schon ein sehr guter Schnitt …

Wie verstehst du Helena inhaltlich? Ist sie eine echte Figur oder mehr eine Vorstellung? 
Ich frage mich auch, ob sie denn wirklich da ist. Sie lebt zwar und erlebt etwas – aber es interessiert einfach niemanden. Die Musik malt, ihre Sehnsucht, ihre Hoffnung und letztendlich ihre Verzweiflung. Hélène erlebt eine emotionale Achterbahn-fahrt in ganz kurzer Zeit, sie öffnet ihren Mund erst, nachdem das halbe Stück vorbei ist. Vielleicht ist sie deshalb eher eine kurze Erscheinung als eine tragende Rolle, so gesehen. Faust hört ihr nicht zu, der in seiner eigenen Welt der Leidenschaft gefangen ist und für Mephisto ist sie ein Mittel zum Zweck, mit dem er um seine Macht kämpft.

Lucrezia / Faust et Hélène