Live fast, love hard, die young! - La Bohème

„Ein Jahr nach Mimìs Tode feierten Rudolf und Marcel mit einem Fest ihren Eintritt in die offizielle Welt. Marcel war endlich in den Salon gelangt, wo er zwei Bilder ausstellte (…), er hatte sich eine anständige Wohnung eingerichtet und besaß ein richtiges Atelier. Fast zur selben Zeit gelangten auch Schaunard und Rudolf an die Öffentlichkeit und damit zu Ruf und Wohlstand, der eine durch ein Melodienalbum, das auf allen Konzerten gesungen wurde, der andere mit einem Buch, das einen Monat lang die Kritik in Atem hielt. Colline hatte eine Erbschaft gemacht und sich dann vorteilhaft verheiratet, so dass er jetzt Soireen mit Musik und Kuchen geben konnte.“

Jetset statt Bohème: Rodolfo (Aldo di Toro), Marcello (Julian Orlishausen), Colline (Dong Won Seo) und Schaunard (Georg Festl) sind zu erfolgreichen Künstlern avanciert (C) Benjamin Weber

In dieser letzten Szene aus Henri Murgers Roman „Scènes de la vie de bohème“, der Vorlage zu Puccinis Oper, treffen wir auf vier alte Bekannte, die in ihrem frisch erworbenen Wohlstand jedoch kaum wiederzuerkennen sind. Murger schildert auf recht nüchterne Weise das Angekommensein der Künstlerfreunde Rodolfo (Rudolf), Marcello (Marcel), Colline und Schaunard im wohligen Establishment. Von der Armut der Dachkammer und der bitteren Kälte, die das Opernlibretto schildert und die Puccini so eindrücklich in Musik übersetzt hat, fehlt hier jede Spur. Puccini und seine Librettisten klammerten diese Szene in der Oper bewusst aus und ließen sie mit Mimìs Tod enden – sie, für die es und unter den prekären Umständen keine Rettung gab, lässt die Anderen in Elend und Armut zurück. Murger hingegen schildert die Bohème als Übergangsphase von der Jugend zum Erwachsenwerden: eine kreative und leidenschaftliche Episode, die es jedoch zu überwinden gilt. Er selbst hatte sich nach einigen so ausschweifenden wie mittellosen Jahren in der Pariser Bohème schließlich als erfolgreicher Künstler in die Gesellschaft integriert und mit seiner Literatur gutes Geld verdient. Diesen Werdegang gesteht er auch den männlichen Protagonisten seiner „Scènes“ zu.


Mit dem Besuch einer Aufführung von „La Bohème“, so heißt es, schaue man automatisch in den Spiegel der eigenen Jugend. Puccini, der zum Zeitpunkt der Uraufführung längst ein international gefeierter Star war, setzte mit dieser Oper seiner eigenen Studentenzeit ein tragisch-schönes Denkmal. Zwar hatte er längst nicht unter so existenziellen Nöten leiden müssen wie Murger, doch seine Faszination für die anarchische und ungebundene Kraft der Jugend war ungebrochen. Seine Schilderung der Bohème ist pure Verklärung und Nostalgie: Von der bürgerlichen Initiation der vier Freunde legt die Oper kein Zeugnis ab – live fast, love hard, die young.

Wolfgang Nägeles Inszenierung von „La Bohème“ setzt bewusst bei einem imaginären Später an und fragt, was passieren würde, wenn sich Rodolfo und Mimì Jahre nach ihrem Kennenlernen wieder begegneten. Die vier Freunde haben derweil die tragische Geschichte von Mimì in ihrer Kunst produktiv gemacht: Rodolfo hat einen erfolgreichen Roman darüber veröffentlicht, Marcello ist Schöpfer der gefeierten Mimì-Kunstinstallation. Als Mimì die Bühne betritt, konfrontiert sie sich und Rodolfo mit der gemeinsamen Vergangenheit und auch mit der Objektifizierung ihrerselbst und ihrer Krankheit zum Kunstobjekt.
Doch die Liebe ist nicht ganz erloschen. Mit dem großen berühmten Duett geben sie sich der gemeinsamen Erinnerung hin: das weihnachtliche Treiben im Café Momus, die Kälte, der Schnee, der Husten, der nie aufhört, das rosa Häubchen und das Ende. (Carolin Müller-Dohle)

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