Digitales Produktionsbuch

Willkommen im digitalen Produktionsbuch!

Sie finden im Folgenden Skizzen, Probenfotos, Videosnippets und Textmaterial, das wir der aktuellen Realität entsprechend für Sie im Homeoffice erarbeitet haben. Es ist nicht nur ein Programmheft zu einer Theaterarbeit oder eine Produktionsdokumentation, sondern eine ins Virtuelle verlagerte Inszenierung. Diese Vorstellung findet nur in Ihrer Vorstellung und kraft Ihrer Vorstellungskraft statt:

Raus aus dem Swimmingpool, rein in mein Haifischbecken war die erste Arbeit, die wir von Beginn an komplett unter Coronabedingungen geplant hatten. Die Konzeption stand, die Bauprobe und die Werkstattabgaben waren gemacht, wir hatten mit den Bühnenproben begonnen und wollten vor Weihnachten einmal das ganze Stück skizzieren. Mitte Dezember kam der Lockdown und unsere Proben sollten Anfang  Januar 2021 weitergehen, doch aus Gründen der Pandemiebekämpfung mussten, wollten und haben wir entschieden, die gesamte Arbeit in den digitalen Raum zu verlegen.

Im Zentrum dieser Arbeit steht nun ein Hörstück, ein digitaler Theaterabend im Kopf: Wir tauchen in Laura Naumanns Dramedy ein und erforschen die Gefühle und Beziehungen der Charaktere akustisch. Für dieses Hörstück haben wir eine neue Fassung geschaffen, die wie eine Serie in drei Teilen abspielbar sein wird, und im Tonstudio des Staatstheaters unter scharfen Hygienebestimmungen eingesprochen wurde. Deshalb "nur" 95% made at home.

Dazu entfaltet das begleitende digitale Produktionsbuch mit Videos aus dem Homeoffice die Perspektive der Figuren, mit Beiträgen zu den Entstehungsprozessen und mit den Raum- und Kostümentwürfen ein Puzzle zum Lesen, Blättern, Stöbern. Ein Mosaik, das die ursprünglichen Bilder additiv zum Hören anbietet, quasi eine Aufführung zum Selberzusammenbauen, kurzum: Theater im Kopf!


Entwurfsprozess Bühne

Raus aus dem Swimmingpool, rein in mein Haifischbecken -  allein aus dem Titel leiten sich viele Interpretationen ab, sowohl im Kopf als auch für verschiedene Entwürfe. Bereits im Juli 2020 begannen die Arbeiten zu ersten Bühnenentwürfen und wurden von da an stetig verändert. Der erste Gedanke zur Bühne war ein in die Jahre gekommener, leerer Swimmingpool, der zur Wohnung umfunktioniert wurde. Jede:r Spieler:in, der:die den Pool verlässt, geht in sein persönliches Haifischbecken, bei dem man zwar genau weiß, wie es dort ist, aber eben nicht was dort geschehen wird.

Von Protagonisten, die in Aquarien schwimmen, über postapokalyptische Swimmingpools, die zum Lebensraum der Spieler werden, bis hin zur finalen Idee einer Ausstellung genannt "Still Lives of a Time gone by, Home Stories 2014"- Geschichten von Zuhause, Vergangenheit. Auf der Bühne versuchen wir die Anordnung eines Lebenstils, der offenbar vorbei ist, im Rahmen einer Ausstellung zu erforschen. Die Figuren erzählen ihre Geschichten, dürfen (oder können) jedoch nicht zueinander kommen. So konnten wir nicht nur der Textvorlage sondern auch den Coronabedingungen auf der Bühne gerecht werden.Moana, Christiane, Boris und Nikita leben in einer Zeit, in der nichts mehr wie vorher ist, jeder in seiner eigenen Blase – auf seinem eigenen Podest – in seinem eigenen Swimmingpool. Der Raum besteht aus einer Spielfläche mit drei Podesten und zwei Rückwänden, die alle die gleiche Oberfläche aufweisen: Sichtbeton. An den Podesten werden Schilder angebracht, die das jeweilige Objekt beschreiben. Die Menschen werden Exponate ihrer Biografien.

Die Podeste selbst können unabhängig voneinander mit LED-Leisten beleuchtet werden, während die beiden Rückwände als Projektionsflächen für großflächige Videos dienen, mit denen wir näher an und in die Figuren heran- und hineinzoomen können. Jede:r Spieler:in hat sein:ihr eigenes Podest, einzig Nikita kann sich frei im Raum bewegen und uns so quasi durch unsere Ausstellung führen. Nikita ist in der Lage die Personen aus ihrem Swimmingpool in das Haifischbecken zu holen? Auf jeden Fall passiert immer etwas, wenn Nikita auftaucht… Die "Dramedy" von Laura Naumann bekommt eine dunklere Grundierung, die in aufwändigen, bunten Kostümen gebrochen wird.

Christianes Podest steht in der Mitte, anfangs top gestyled, eine seriöse Nachrichtensprecherin, könnte auf ihrem Schild am Podest stehen, "Christiane, Nachrichtensprecherin, nach fünf Wochen Quarantäne, arbeitslos." wie eine Verlaufsbeschreibung: Man sieht ihr im Laufe des Abends den Zustand des Verwahrlosung zuhause an, die Haare sind nicht mehr zurecht gemacht, sie trägt schlabbrige Klamotten und trinkt eine Flasche Wein nach der anderen.
Moana, links von Christiane aus gesehen, sitzt in einer Badewanne, die bis zum Rand mit Business-Outfits, die sie im Lauf des Stücks nach und nach anprobiert, gefüllt ist. Sie wird mit zwei gebrochenen Armen und in voller Business-Montur in der Badewanne sitzen und holt sich auch dann ihre Klamotten aus dem Wasser, um sich mehrmals umzuziehen. Ihre Blazer, die sie im Verlauf des Stücks kauft, sind alle gleich. Vielleicht changiert mal ein Grauton, aber vielleicht wäre das auch schon zu individuell, um seriös rüberzukommen...
Boris, auf der anderen Seite des Raumes, ist ein Flugbegleiter im Homeoffice und trägt auch privat voller Überzeugung den Firmenmerchandise. Von Kopf bis Fuß ist alles Dunkelblau mit gelben Details, wenn er nicht gerade seine dunkelblau-gelbe Steward Uniform trägt.
Nikita wird eine Art Helm-Kapuze tragen, um sich über die geltenden Abstandsregeln hinwegsetzen zu können. Seine Kleidung zeigt sowohl klassisch männliche als auch klassisch weibliche Attribute, so soll ein Verwirrspiel erzeugt werden. Mal ist es ein Kleid, mal eine Leggins und dann ein schlabbriger Pullover, den sich Nikita überzieht.

- Für Details die Entwürfe anklicken - 


Probenstart in den Kammerspielen

Zwei Fragen an Regisseur Jochen Strauch

Was ist deine Assoziation zu dem neuen Spielzeit-Motto "Komm ins Offene" in Zeiten der Pandemie?
Vielschichtig. Wir alle wollen in diesem Moment wieder ins Offene, in die Welt draußen. Wollen, dass es weitergeht, aber wollen auch, dass etwas neu startet. Dass eine offenere, durchlässigere, solidarischere, achtsamere Welt aus der Krise entsteht – und gleichzeitig raten Wirtschaftsexpert*innen bereits offensiv, auf keinen Fall gleichzeitig Konjunktur und Klima zu bearbeiten. Aber für mich hängt das alles zusammen. Als der erste Shutdown kam, haben viele meiner Freund*innen auch aufgeatmet in einem Gefühl, das neben der Sorge umeinander voller Hoffnung war, dass jetzt etwas stehen bleibt und ganz anders entwickelt werden kann. Gleichzeitig klingt Hölderlins Satz in mir auch wie ein "Öffne Dich dem Ungewissen", wenn ich es mit heute zusammen denke…

Making-Of von Jochen Strauch

Was reizt Sie an dieser spätkapitalistischen Geschichte? An diesem Text?
Dass es eine hochspannende, melancholische Komödie über Lebensentwürfe in Zeiten der Krise ist. Jetzt ist der Moment. Was wir in Amerika beobachten. Was wir im Weltklima wahrnehmen. Wie COVID-19 unsere Fragilität herausgearbeitet hat. Da kann doch Kapitalismus nicht mehr das Lösungsangebot sein. Eine Nachrichtensprecherin, die in laufender Sendung aus ihrem Job aussteigt und in die Wohnzimmer hinein alles in Frage stellt, eine Tochter, die so eine Mutter naiv findet und sich in vollem Tempo aus der Kurve haut, bildlich und real sich beide Arme bricht vor lauter Leistungswillen und der (Lufthansa-)Steward, der Anerkennung haben will – Menschen, die um ein glückliches Leben kämpfen. Für mich finden die ihr Glück und ihre Erfüllung nicht in diesem System. Der Text oszilliert um die Themen unserer Zeit - Theater ist immer jetzt.

Erinnerungen an eine Aufführung, die nicht stattfand

Anfang Dezember 2020. In den Kammerspielen des Staatstheater Darmstadt. Draußen regnet es. Alle, die noch nicht oder nicht mehr in Kurzarbeit sind, kommen um das Team zu begrüßen, das hier in den nächsten 8 Wochen arbeiten wird. Es ist Montagmorgen, und alle sind da: Haus-Dramaturgie, Marketing, Regieteam, Schauspieler:innen, Requisiteurin, Techniker, Alle. Jetzt geht's  los: Konzeptionsprobe. Wir stellen einmal allen Anwesenden unsere bisherigen Ideen vor: Inszenierungsansätze, Bühnenskizzen, Musiksnippets, Kostümideen, und so weiter. Jetzt geht’s richtig los. Wir starten.

Wir starten – nach einer kurzen Kaffeepause – damit, den Text von Laura Naumann gemeinsam, vor Ort, fast ohne Zoom (Kathi Eingang ist nach ihrer abenteuerlichen Einreise aus Österreich noch bis Mittwoch in Quarantäne), Skype oder Facetime zu lesen. Wir starten. Auf Seite 3. Immer wieder unterbrechen wir uns selbst, unterbrechen uns, um zu diskutieren; welchen Strich wir gerade noch sinnvoll finden oder eben gerade nicht mehr. Wir unterbrechen uns, um zu sprechen. Wann kommt ein Videoeinspieler, wann Musik, ob und wann sprechen wir chorisch, wer spricht dann im Chor. Wir unterbrechen uns, um uns Fragen zu stellen. Es ist Konzeptionsprobe. So fing alles an...


Zuhause bei Flugrats

Stefan Schuster über Boris

Boris ist mir persönlich erstmal sehr nah. Ich glaube, man freundet sich schnell mit seinen, auf den ersten Blick alltäglichen Alltags-/Job- und vielleicht auch Liebesproblemen an. Er frühstückt gerne, das tu ich privat auch. Da hat ‘ne Figur schonmal gewonnen. Erst beim zweiten und dritten Blick erahnt man, welche Schichten da noch zwischenlagern, und die kommen ja, ohne spoilern zu wollen, am Ende des Tages bzw. Stückes auch nach oben. Ob sich die Figuren aus ihren gegenseitigen Verbindungen lösen können oder wollen, das ist die nächste Frage. Irgendwie können sie nicht mit und auch nicht ohne einander. Ich war beim ersten Kennenlernen der Figur anfangs der Meinung da herrscht viel Oberflächlichkeit, aber wie auch im realen Leben gibt es in Boris eine gehörige Portion Flucht und Selbstschutz, die als Oberflächlichkeit ausgelegt werden kann.

Als Schauspieler nähere mich eigentlich nicht gern Figuren "in der Theorie", also in der Vorbereitung des Stückes. Klar ploppen da plötzlich Ideen auf, wie könnte der sein, bohrt der in der Nase, hat er’n S-Fehler, etc. Aber beim konkreten Proben und vor allem beim Interagieren mit den anderen Figuren stellt sich dann oft heraus, daß das eben auch nur Theorie war und Spieler und Figur dann eben doch ganz anders reagieren müssen, als man sich das mal vorgenommen hat. Ich muss einfach auf der Bühne rumwerkeln und Blödsinn machen können. Über Ausprobieren mich immer näher rantasten. Diesen Prozeß finde ich sehr spannend, weil er in der Arbeit am unvorhersehbarsten ist. Oft erschließen sich, das ist aber eine ganz persönliche Sache, die elementarsten Eigenschaften einer Figur erst in der letzten Woche der Proben. Das sind dann die aufregenden Momente, wenn wirklich kurz vor Schluß ein Knoten platzt und eine Figur sich plötzlich nochmal in eine ganz andere Richtung dreht.

Leider konnte dieser Moment in der Produktion ja nicht stattfinden und schon nach zwei Wochen wurde der Stecker gezogen. Zwar sind in dieser Zeit natürlich schon Anlagen der jeweiligen Figuren da, aber, um beim Swimmingpool zu bleiben: Gerade wurde das Wasser eingelassen, wir haben die Schwimmklamotte an - und dann ruft der Bademeister durch, "Es ist kurz vor 6, wir schließen in 2 Minuten. Leider macht das Bad auch erstmal nicht mehr auf. Ihr dürft aber die Schwimmnudeln mitnehmen, macht es Euch schön zuhause in der Wanne!" Das war für mich doch auch... enttäuschend - aber: ich habe versucht das, was schon im Ansatz da war, so gut wie möglich ins Hörstück zu packen.

 


Luise Harder über Moana

Moana ist für mich eine selbstbewusste und willensstarke junge Frau. Ihr Ehrgeiz ermöglicht ihr viel und verschafft ihr beruflichen Aufstieg, steht ihr jedoch oft auch im Weg. Auf ihrem Weg nach oben, wie sie es wahrscheinlich bezeichnen würde, kommt sie selbst, ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden nicht allzu selten zu kurz.  Chronischer Stress, verbissen darin es zu schaffen, einziger Fokus die Karriere: darin zerbröselt die Figur zu einem bemitleidenswerten Häufchen Elend, das man am liebsten in den Arm nehmen möchte. Plötzlich steht da eine erschöpfte fast schon kränkliche junge Frau voller Selbstzweifel. Mit ihrer radikalen Entschlusskraft kann sie schon auch mal gegen Wände rennen, aber man muss nicht lange warten bis sie wieder da steht wie eine Eins und weitermacht/weiterarbeitet. Man wünscht ihr eigentlich einfach nur eine RUHIGE MINUTE. Oder zwei oder drei oder....

Der Spagat zwischen der jungen Frau, die sich total selbst verliert und innerlich zerbricht an der Welt und der toughen Karrierefrau hat mich besonders gereizt an dieser Figur. Moana, stellvertretend für eine Generation, die immer schneller, weiter, höher hinaus will, eine Generation, die auf Perfektion aus ist, alles im Griff haben möchte und NIE Zeit hat #stayhydrated und jetzt folgen viele Hashtags!

 


Karin Klein über Christiane

Nach dem ersten Lesen, habe ich tief in den Kisten gewühlt und tatsächlich 2 Fotos gefunden, die mich als Fernsehansagerin zeigen; 1983, vor 37 Jahren beim Hessischen Rundfunk. Damit habe ich während des Studiums an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Geld verdient. Tagsüber Schauspielschule, abends Studio, dann Feiern. Obwohl es so lange her ist und ich ewig nicht daran gedacht habe, kann ich mich noch gut an die Atmosphäre im Studio erinnern, an die Kuriosität, dass unter der etwas fremd hinfrisierten und geschminkten Frau mein Name stand, an den Druck auf den Punkt funktionieren zu müssen und an den Spaß, genau das zu unterwandern; z.B. mit einer Plastikspinne als Brosche, die im Laufe des Abends, also vier bis fünf Ansagen, eine Strecke über meine Brust zurücklegte und dann über die Schulter verschwand.

Dasselbe mit einer Maus.. „damit meine Damen und Herren ist unser Programm beendet, ich wünsche ihnen eine gute Nacht“, es gab noch Sendeschluss, Testbild und Schnee. Jetzt also CHRISTIANE, eigentlich Journalistin, Nachrichtensprecherin mit Ambition, Zweifel, Verzweiflung und einem trockenen Humor. Ich hätte diese Figur so gerne auf die Bühne gebracht! Das Nebeneinander von großen Fragen an den Sinn des Lebens, tiefen Sehnsüchten, Scheitern, Aufbegehren und Hilflosigkeit in einer absurden WG Situation, ist tragisch und komisch zugleich. In zwei Wochen Proben, hatte ich davon eine Ahnung, eine lustvolle Annäherung, -dann Lockdown, Zoom-Proben, Ungewissheit. Später wird klar, wir werden damit nicht auf die Bühne kommen, es wird ein Hörstück. Ein schmerzhafter Prozess und auch das Abgeben an Aufnahme, Technik und Schnitt nicht so leicht. Doch ich bin froh, dass wir in ungewöhnliche Zeiten, einen ungewöhnlichen Weg gefunden haben, danke Jochen Strauch, Kathrin Eingang, Christian Schuller und Matthias Schubert und natürlich den reizenden Mitspielern für alle Energie und Geschmeidigkeit! Ich bin sehr gespannt auf das Ergebnis.

 


Hans Christian Hegewald über Nikita

Nikita versteht sich als Mensch, selbstverständlich. Die Menschen drum herum missverstehen sich als Menschen, missverständlich. Meine Figur Nikita ist in ihrer Selbstverständlichkeit genauso umwerfend wie ungreifbar. Allein darüber zu schreiben wird ihr nicht gerecht. Und doch und zwar einfach weil. Nikita stellt fragen. Nikita redet nicht viel. Über Nikita wird viel geredet. Nikita weiß das. Nikita weiß. Nikita lernt. Nikita muss nicht. Nikita will und kann. Nikita entscheidet sich für Konfrontation. Nikita will sich nicht erklären. Nikita will dazu gehören. Nikita gehört dazu. Aus Nikita wird man nicht schlau. Nikita hat das nie behauptet. Nikita muss auf keine Bühne. Nikita muss in die Köpfe des Publikums. Nikita hat das Wort „Sinn“ verstanden. Nikita philosophiert nicht. Nikita will nicht in Berlin im Exil leben müssen. Nikita will in jeder x-beliebigen Kleinstadt zum Bäcker gehen können. Nikita liebt das Wasser. Nikita zündet sich Kerzen an. Mit Nikita ist man weniger allein, aber nicht gerettet. Nikita hat den Elefanten im Raum an der Leine. Nikita würde nie auf ihm reiten. Nikita ist keine Kunstfigur. Nikita ist knallhart. Nikita ist der Fall.

Mir ist es wichtig zu sagen, dass ich keine Trans*-Person „spiele“. Vielleicht ist Nikita trans*, vielleicht non-binär, vielleicht bezeichnet sich Nikita als Mann* oder als Frau* oder vielleicht anders. Wichtig ist, dass das nicht die wesentliche Eigenschaft dieser Figur ist, sondern zu problematisieren, dass die anderen Figuren sich an der Nicht-Antwort auf diese Frage aufhängen. Dass Christiane, Moana und Boris sich ein Leben mit Nikita vorstellen können. Und warum wäre das so besonders? Nicht wegen des Geschlechts, nicht wegen der sexuellen Orientierung, sondern weil Nikita zuhört, weil Nikita Fragen stellt, weil Nikita zeigt, dass ein Leben jenseits dieser Normen möglich ist, in denen die anderen gefangen sind. Aber das wird in diesem Stück (leider) nicht passieren. Denn hier wird eine Gesellschaft gezeigt, die sich ihrer Privilegien nicht bewusst ist, die ein Wunder erwartet, eine Rettung, eine schnelle Antwort auf die vielen Fragen, die sie sich nie stellt. Die völlig aus der Puste versucht, an der Oberfläche zu bleiben, um nicht tiefer schauen zu müssen. Und dann nicht richtig loslassen kann, obwohl die Krise in vollem Gang ist und die Veränderung aus der Entspannung heraus entstehen kann.„Du machst es dir selbst schwer, weil du nicht akzeptierst, dass es anders ist, als du es kennst, anders als du es dir vorstellst.“ (Nikitas letzte Sätze.)

Viele heterosexuelle Cis-Männer haben Transfrauen gespielt und wurden dafür mit großen Preisen ausgezeichnet. Das wird der Ganzheitlichkeit der Menschen mit Transidentität nicht gerecht und nimmt den Raum für die Selbstrepräsentation von Transmenschen. In der Darstellung bedeutet es oft, dass die Identität der Figuren als Transmenschen ihr Haupt-Charaktermerkmal sei. Dadurch wird das Bild von Transmenschen durch die Medien auf ihre Geschlechtsidentität reduziert und als etwas, das die Menschheit als das „Besondere“, das „Exotische“, das „Andere“ ansieht. Das finde ich problematisch und es mindert den täglichen Kampf ab, den diese Menschen auf allen Ebenen führen müssen. Allein, dass ich als weißer heterosexueller Cis-Mann sie als „diese“ Community beschreibe, zeigt, dass überall und in unserem Fall speziell am Theater noch viel passieren muss, damit Transmenschen eine Rolle unabhängig von ihrem Geschlecht und ihrer sexuellen Orientierung spielen können. Dafür muss eine Leitung den Weg ebnen, sich ihrer Privilegien bewusst werden und diese teilen. Und die Spieler*innen müssen ihre binären normativen Ansichten und ihre Rolle als Stellvertreter*innen hinterfragen. Nur dann erreichen wir die „Neue Selbstverständlichkeit“, wie Tucké Royale sie manifestiert hat.

 


Homeoffice und Hörstück

Ein Hörstück unterscheidet sich vom Hörspiel ganz elementar in der Art und Weise, wie Sounds, Text und akustisches Material miteinander verschnitten werden. Im Hörspiel, wir kennen das vor allem aus unseren Kindertagen, werden mit Hilfe akustischer Effekte und Soundmaterial realistische Orte geschaffen. Man hört Blätterrascheln, wenn jemand durch den Wald läuft, in der Stadt sind Autogeräusche und Stimmengewirr allgegenwärtig. Das Hörstück ist vielmehr als Collage akustischen Materials zu verstehen, indem akustische Assoziationen den Text begleiten aber nicht formen. Walter Benjamins Radiospiele, seine Hörmodelle, ein Konzept entwickelt aus der Auseinandersetzung mit Brechts Modellbüchern, oder Hörspiele forderten die Hörer:innen heraus, sich ganz einzulassen und Teil des auditiven Erlebnisses zu werden. Die Texte, die Benjamin dafür nutzte, waren extra für das Medium Radio produziert und hatten durch  akustische Irritationen und collagierte Doppeldeutigkeiten hauptsächlich einen didaktischen, pädagogischen Charakter und sollten als Agitation gegen den aufkeimenden Faschismus in Europa Ende der 1920er Jahre wirken.

So legten Benjamins Radiospiele auch einen Grundstein für ästhetische Klangkunst mit Text: Ein Hörstück kann Vieles sein,  eben auch  die Überführung einer Theaterinszenierung in den zweidimensionalen Hörraum und die folgende Imaginierung des Theaterraums im Kopf der Zuhörer:innen; aber auch die Collagierung von Tonmaterial, wie beispielsweise im experimentellen Hörstück „Apollo Amerika“ von Kriwet aus den 1960er Jahren; die Erforschung des Internets in Überschreitung unterschiedlichster akustischer Genres wie in einer unserer Inspirationen „Limitless Potentials” von Jennifer Walshe und Jon Leidecker; oder - ganz aktuell - Heiner Goebbels mit „Gegenwärtig lebe ich allein” (erschienen im Deutschlandfunk, 13.01.2021), der eine Klangcollage aus Texten von Henri Michaux und Klaviermusik geschaffen hat.

Die Grenzen zwischen Hörstück und Hörspiel scheinen fließend, denn so klar manches Gehörte aus unseren Kindertagen als Hörspiel identifizierbar ist, so ungenau sind sie, die Grenzen, wenn sich die akustischen Räumen zu Assoziationsräumen auflösen, die durch Toncollagen, Effekte oder Musik geschaffen werden.


Digitale Bühne

Zwei Fragen an Raum- und Kostümbildnerin Kathi Eingang

Welche Herausforderungen gab es für dich beim Denken einer digitalen Bühne?
Als wir entschieden hatten, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen und unsere Produktion in den digitalen Raum zu verlegen, war das für mich wie ein Schock. Alle Entwürfe und Ideen mussten verworfen werden, ebenso wie bereits gefertigte Bühnenelemente. Die Herausforderung bestand für mich darin, mich mit den Figuren nochmal neu zu beschäftigen. Wer könnte wann und warum wo sein bzw. wer befindet sich, wenn alle in einer Wohnung leben, in welchem Raum. Diese Entwürfe bzw. Räume mussten herausstechen und jeder Raum zu den einzelnen Figuren passen. Bei diesen Entwürfen konnte ich mich austoben und alle Ideen und Farben spielen lassen, der Phantasie waren keine Grenzen gesetzt. Der Grundgedanke ist aber geblieben. Jede:r sitzt in seinem eigenen Swimmingpool, wie es auch auf der Bühne geplant war, aber das Haifischbecken konnte im digitalen Raum immer näher kommen, die Räume konnten geflutet werden, um die Spieler:innen dazu zu bringen sich in ihr persönliches Haifischbecken zu trauen.

Welche Elemente hast du aus der analogen Konzeption der Bühne in die digitale Bühne übernommen?
Von der analogen Bühnenkonzeption ist nicht mehr viel übrig geblieben. Ich musste und wollte radikal neu denken. Die Grundkonzeption, dass jede:r Spieler:in bis auf Nikita einen eigenen Raum hat, das ist erhalten geblieben, sonst war ich viel freier. Christiane ist im Wohnzimmer, Boris in der Küche und Moana ist in ihrer Badewanne. Dabei sind die Räume nach den Elementen, die auf der Bühne, sowie im Stück vorkommen, ausgewählt. Auf der Bühne hätte Christiane auf ihrem Podest einen gemütlichen Sofa-Stuhl und Moana eine Badewanne gehabt, dadurch ergaben sich Wohnzimmer und Badezimmer. Boris ist der Einzige, bei dem der Raum nicht nach dem Möbelstück auf dem Podest gewählt wurde, sondern nach seinen Tätigkeiten im Flugzeug und seinem Wunsch nach einem schönen opulenten Sonntagsfrühstück mit der ganzen Familie. Außerdem wollte ich kein Flugzeug verwenden, weil alle vier Protagonisten nur zu Hause auch wirklich zusammenkommen, weshalb wir die Monologe beispielsweise  in den ZOOM-Proben nicht mit virtuellem Bühnenbild geprobt haben.

Vorlage Wohnzimmerfoto: www.fridlaa.de


Raus aus der Digitalität, rein ins Tonstudio

Zwei Fragen an Sounddesigner Matthias Schubert

Für die Bühnenproduktion hast du bereits Musiken entworfen, die die Figuren des Stücks und Atmosphären gezeichnet haben, wie bist du da rangegangen?
Direkt beim Lesen hatte ich den Sound für eine absurde Sitcom im Stil der 1960er und 19070er Jahre im Kopf, der auch immer wieder mit Science-Fiction-Elementen chanchiert. Die Melodie des Mainthemes sollte im Kontrast zum Stückinhalt stehen und leichte Kost suggerieren. Für die einzelnen Charaktere war es dann schon vielschichtiger, Nikita beispielsweise sollte - im Kontrast  zu den anderen drei Figuren - einen ganz eigenen, androiden Sound bekommen, somit besteht das Nikitamotiv ausschließlich aus elektronischen Klängen. Die anderen drei Figuren hatte ich  akustisch mehr zusammenhängend geplant, ihre Sounds bestehen jeweils aus collagierten Elementen des Mainthemes, die je nach Szene nochmal mit assoziativen Sounds verschnitten sind, die den Raum öffnen.

Jetzt ist es ja was ganz anderes ein Hörstück zu produzieren, als die Theatermusik für eine Bühnenproduktion zu komponieren, wie hat sich deine Arbeitsweise dadurch verändert?
Es ist eine ganz andere Arbeitsweise Musik zu komponieren als ein Hörstück zu schneiden und final zu produzieren. Normalerweise entstehen in der Probensituation musikalische Ideen, die im weiteren Verlauf ausgearbeitet und in den Endproben finalisiert werden. Dabei beeinflusst mich die Arbeit der Schauspieler:innen an und mit der Rolle, eben dieser Input fehlte mir, denn für die Hörstückproduktion musste ich die Sounds denken, ohne von den Proben inspiriert werden zu können. Onlineproben über Zoom oder Wonder können das auf keinen Fall auffangen. Die Kreativität verschiebt sich dann schon sehr ins Technische, ich musste vielmehr den Rhythmus der im Studio aufgezeichneten Stimmen im Schnitt mit der Musik zusammenbauen und konnte nicht frei improvisieren und die Sounds erforschen.

95% made at home

Wir waren zum Zeitpunkt des harten Lockdowns im Dezember mit einer ungewöhnlichen Situation konfrontiert: Probenbedingungen, wie wir sie geplant hatten, waren nicht mehr gesichert, unsere Arbeit konnte nicht mehr vor Ort fortgesetzt werden - eine klassische Aufführung konnte nicht mehr das Ziel sein. So wie sich die Pandemie in Deutschland entwickelt hat und noch immer entwickelt, kann es auch gesellschaftliche Verantwortung bedeuten, sich  - auch im Theater - in den Rückzug zu begeben. Wir mussten uns mit dem Gedanken anfreunden, dass unsere Ideen nicht mehr auf der Bühne realisiert werden können.

"Aber immer wieder beschäftigt mich in den letzten Arbeiten auch die Frage, inwiefern wir die eigenen Haltungen und Aussagen, die wir künstlerisch vertreten, auch bereit sind bis in die letzte Konsequenz zu verkörpern.", schreibt Jochen Strauch 8. Januar 2021 in seinem Making-of.

"Wir haben uns damit abgefunden, dass die Entscheidungen an anderen Stellen getroffen werden, dass die Demokratie keine Demokratie ist, dass wir maximal ausbaden können, was andere uns einbrocken. So sehen wir uns: Wir sind die, die alles ausbaden. Und so sind wir am Leben, aber wir haben keine Ideen für dieses Leben, wir übernehmen keine Verantwortung für dieses Leben.", schreibt Laura Naumann für Christianes großen Ausbruch in den Abendnachrichten in Szene 3.

Verantwortung und Solidarität sind die Worte der Stunde. Gemeinsam mit dem Staatstheater Darmstadt haben wir uns für Konsequenz in der Arbeit und in der Veröffentlichung entschieden, indem wir beherzt sagen: Zusammen durch die Pandemie! 95% made at home. Jede:r zahlt soviel er:sie kann.