Regisseur Philipp Preuss im Gespräch mit Schauspieldirektor Alexander Kohlmann über seine Inszenierung von „Der Kirschgarten“

Alexander Kohlmann: Philipp, „Der Kirschgarten“ ist Tschechows bekannteste Komödie und erzählt von einer nahezu absurd anmutenden Realitätsverweigerung, die letztlich in den Untergang führt. Was hat diese Fabel aus Deiner Sicht mit unserer Gegenwart zu tun?

Philipp Preuss: Wir erleben das Ende jeder Vision einer zukünftigen Gesellschaft, ein Leben im Rückspiegel, eine Sehnsucht nach Vergangenheit, wo scheinbar alles besser, größer war: Stichwort „Make Amerika Great Again“ oder Russland als Halluzination eines einstigen Superreichs, irgendwas zwischen Stalinismus, Religion und Zarentum. Das ist gespenstisch im Sinne einer Hauntology, Figuren wie Gespenster, nicht richtig lebendig, aber auch nicht richtig tot, seltsam untot, als wäre in der Vergangenheit die Zukunft zu finden. Das Archiv wird durchforstet und überschrieben, Geschichte neu interpretiert, revisited und neu arrangiert, aber eigentlich nichts Utopisches, Originäres mehr gedacht und geschaffen. Ein Leben in Erinnerung, während gleichzeitig eine große Veränderung, ein revolutionäres Momentum oder auch Gewalt und Krieg geahnt wird. „Retrotopia statt Utopia“ nennt das Zygmunt Bauman in seinem gleichnamigen Buch. Es wird permanent gezögert, Fehlervermeidungsstrategien werden angewandt, Angst vor Entscheidungen und Zaudern sind Grundmotive unserer Gegenwart geworden und die sehen wir ja gerade überall, ob politisch, sozial, im Arbeitskontext oder im privaten.

AK: Du hast in Deinen Inszenierungen, zuletzt bei uns in Deiner Adaption von Kafkas „Der Prozess“, immer wieder das Unbewusste der Figuren in faszinierenden Bildwelten sichtbar gemacht. Wie funktioniert diese Arbeitsweise in Bezug auf Tschechow, wo ja fast alles im endlosen Dialog zwischen den Protagonist*innen passiert?

PP: Tschechows Figuren leben in Erinnerung, fast parallel in verschiedenen Zeitebenen. Heimat ist da kein Topos mehr, sondern ein psychologischer Zustand, Heimat ist Erinnerung, das find‘ ich extrem interessant. Keine der Figuren geht zum Beispiel in diesen Kirschgarten, alle reden nur über ihn und seine Vergangenheit, alles bleibt abstrakt und unpraktisch, außer bei den Dienern, aber sogar die vermissen ihre Herren der Vergangenheit, es tauchen sogar verstorbene Figuren auf, sehr gespenstisch und spooky, wenn man das einmal so liest. Es gilt da die Psychologie zu entdecken, nicht als psychologischen Realismus, aber als Menschenkunde, als Anthropologie des Unbewussten und Verdrängten, die Dialoge gehen oft aneinander vorbei, sind beinahe indirekt, die Figuren verhören sich oft, permanente Fehlleistungen passieren, Hoppalas, irgendwas scheint in diesem Zeitkontinuum durcheinander zu stolpern.

AK: Das Landgut inmitten des Kirschgartens ist das zentrale und berühmte Motiv in Tschechows Text. Wie werden wir diesen Ort auf der Bühne erleben?

PP: Sara Aubrecht baut einen Raum aus Licht und Nebel, abstrakt, ein Haus der Imagination und Erinnerung, der aufglüht und verblüht. Ich denke, der schöne Kirschgarten im Titel darf da aber nicht täuschen, das ist Illusion und Wunschdenken, das Haus ist schon auch ein Haunted House: Unterdrückung, Tod, Trauer, Ausbeutung, Sehnsucht, Angst, verpasstes und verprasstes Leben sind da durchaus im Mobiliar eingebaut. Wir werden zudem versuchen auch über das Video, die Musik und die Kostüme verschiedene Zeitebenen zu erzählen.

AK: Tschechows Text ist als Komödie überschrieben. Ist diese Geschichte lustig?

PP: Tschechow beschreibt seine Figuren sehr liebevoll, ironisch, dieses sture Vorbeileben und Zaudern, diese Lebensgier bei völliger Mutlosigkeit, dieses theoretische Besserwissen bei gleichzeitiger praktischer Infantilität. Und das Scheitern der anderen ist ja eh immer auch lustig, weil man sich selbst darin entdeckt. Der Witz steckt da oft im Ohr des Zuhörers. In seiner Erzählung „Die Steppe“ schreibt er: „Die Russen erinnern sich gerne, aber sie leben nicht gern“. Das ist bei all der gegenwärtigen Tragik auch witzig, Tschechow entdeckt das Lustige im Tragischen und das Tragische im scheinbar Lustigen, diese Uneindeutigkeit in Zeiten, die gerne alles sortiert, portioniert, kuratiert und erklärt haben wollen, macht ihn zu einem Klassiker, da bleiben die Fragen immer größer als die Antworten. Und so ein Klassiker ist ja sowieso wie eine Skulptur, die von allen Seiten betrachtet werden muss, also auch von der komischen.


Der Kirschgarten
Komödie von Anton Tschechow / empfohlen ab 14 Jahren

REGIE Philipp Preuss
BÜHNE Sara Aubrecht
KOSTÜM Eva Karobath
VIDEO Konny Keller
MUSIK Kornelius Heidebrecht
DRAMATURGIE Alexander Kohlmann
KOSTÜMASSISTENZ Katharina Heldner

Premiere am 06. Februar, 19:30 Uhr | Kleines Haus
Weitere Termine: 14. & 21. Februar, 13., 19. & 28. März, 29. Mai
Für diese Inszenierung bieten wir außerdem Schulvorstellungen an!

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