Eine Annäherung - Blog zur Produktion

                                                                 von Dramaturgin Isabelle Becker

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Samstag, 26.02.22

V. Endspurt Saturday Night Fever in Darmstadt

Nur noch eine Woche bis zur Premiere von „Saturday Night Fever“.

Fünf Wochen haben sich die Darsteller*innen gemeinsam mit dem Team intensiv mit dem Stück auseinandergesetzt, in intimen Leseproben die Figuren und ihre Geschichten mit den eigenen Geschichten verwoben und abgeglichen, Choreografien gelernt und stundenlang trainiert, musikalische Nummern einstudiert und interpretiert. In Kostüm- und Maskenabteilungen wurde im Akkord gearbeitet, die Bühnenelemente in den Werkstätten gebaut und auf die Bedürfnisse des Raumes angepasst. Das Licht wird in stundenlangen Beleuchtungsproben nach den Stimmungen der Szenen ausgerichtet. Das „2001 Odyssey Orchestra“ – die Band und Ton – kommt hinzu.

Schritt für Schritt setzen sich so die einzelnen Parameter zu einer Show zusammen – und das gesamte Haus arbeitet engagiert auf die Premiere am 05. März hin.

Backstage-Momente und Einblicke in den Probenprozess bietet eine Dokumentation von Benjamin Weber und Christina Sweeney (Abteilung Kommunikation), die nach der Premiere des Stückes herauskommen wird. In Interviewsituationen wurden einzelne Darsteller*innen und Teile des Kreativteams zu dem Stück, ihren Rollen und ihren Erfahrungen befragt. Wir gewähren bereits diesen Samstag erste kleine Einblicke, mit Ausschnitten aus den Interviews zum Nachlesen …


Till Kleine-Möller, Regie

„Was mich besonders interessiert, sind die die Charaktere, diese vielen Figuren, die auftreten im Milieu der 70er Jahre, in einer unscheinbaren Straße in Bay Ridge – „Ridge“ als Nische zwischen den verschiedenen Gesellschaften. Tony Manero steht allen voran im Zentrum.

Aber es war mir ganz besonders wichtig, dass wir alle Figuren stark herausarbeiten, weil diese ganzen Figuren Tony Manero in seinem Prozess des Erwachsenwerdens, der Identitätsfindung beeinflussen.“


Alexander Klaws, Tony Manero 

„Ich glaube, bei der Inszenierung ist hier einfach das Besondere, dass die Bühne die Welt ist. Ich gehe vom Zimmer direkt auf die Bay Ridge Street und von der Straße direkt in den Club und habe quasi so meine Welten  immer miteinander verbunden. Und das ist total spannend, weil man dann natürlich einen extrem schönen Bogen spielen kann, ohne Durchatmen.

Man hat immer eine Grundspannung. Spannend wird es, wenn man vielleicht einen Tag mal eine andere Laune mitbringt und das dementsprechend auch benutzt für die Rolle. So bleibt jeder Abend irgendwie individuell.“


Janina Moser, Stephanie Mangano 

„Stephanie kommt aus armen Verhältnissen und möchte dort unbedingt ausbrechen, um sich etwas Neues aufzubauen, in Manhattan erfolgreich durchzustarten und unabhängig zu sein. Und sie wirkt anfangs schon sehr kühl und unnahbar.

Aber es kommt im Laufe des Stückes immer mehr zum Vorschein, warum sie so ist, wie sie ist. Denn sie hat auch Selbstzweifel und Unsicherheiten und schlechte Erfahrungen gesammelt und ist innerlich zerbrechlich. Und das ist genau, was sie ausmacht.“

Timo Radünz, Choreografie 

„Also ich kann mir natürlich Schritte in meinem Wohnzimmer zusammensetzen und überlegen. Aber das Gesetz besagt, es muss eine gute Show bei herumkommen. Und das heißt, gerade die Menschen oder die Darsteller*innen, die ja mit dem Tanz etwas erzählen sollen, müssen auch die Möglichkeit haben, etwas zu erzählen. Und wenn meine Bewegung mir eine Geschichte erzählt, dann hilft es einem anderen nicht, der damit keine Geschichte erzählen kann. Und ich finde, da muss man ganz bewusst in einen offenen Austausch gehen und herausfinden, was deren Ding, was die Darsteller*innen fühlen, physisch und psychisch.“


Marije Maliepaard, Annette 

„Alle sind total offen. Das Zusammenarbeiten ist sehr entspannt. Und ich habe wirklich das Gefühl, wir kreieren momentan etwas.

Wo ich vielleicht in anderen Projekten schon einen sehr bestimmten „Frame“ hatte, worin ich funktionieren musste, habe ich hier vielleicht mehr Freiheit, um mich mal auszutoben, zu spielen und zu probieren, was ich ganz spannend finde. Und für mich ist es tatsächlich auch das erste Mal, dass ich eine große Rolle spiele nach der Ausbildung. Das heißt, ich merke gerade erst, wie der Probenprozess ein komplett anderer ist.“


Michael Nündel, Musikalische Leitung 

„Jeder hat sie im Ohr, die Bee Gees. Es ist einfach unverkennbar. Und das soll und wollte man natürlich nicht kopieren, als man das Stück auf die Bühne gebracht hat. Zumal es nie ratsam ist, einen Film eins zu eins auf die Bühne bringen zu wollen, weil Theater ja anderen Gesetzen folgt.

Und diese anderen Gesetze gelten natürlich genauso für die Musik. Das Musical braucht die Theatralik. In einigen Nummern haben wir wiederum verstärkt versucht, den Bee Gees unsere Reverenz zu erweisen.“


Samstag, 19.02.22

IV. Saturday Night Fever - Das Musical

„Saturday Night Fever“ – ein Filmmusical wird zum Bühnenmusical und nahm damit einen umgekehrten Weg als beispielsweise „Grease“, das erst als Musical am Broadway und dann als Film erschien. Eines haben jedoch „Grease“ und „Saturday Night Fever“ – und letztlich auch die Bee Gees – gemeinsam: den Produzenten Robert Stigwood. Zusammen mit Bill Oakes, seinem Geschäftsführer von RSO (Robert Stigwood Organisation), brachte Stigwood die Version des Musicals auf den Markt. Mit an Bord waren auch die deutschen Co-Produzenten Thomas Krauth und Michael Brenner. Das ist auch der Grund, warum die deutsche Erstaufführung noch vor New York  in Köln stattfand.

Jukebox-Musical


Das Buch zum Musical verfasste Nan Knighton in Zusammenarbeit mit Arlene Philips, Paul Nicholas und Robert Stigwood – in naher Anlehnung an Situationen und Schauorte des Films, aber auch an die Film-Dialoge. Musikdramaturgisch gesehen ist „Saturday Night Fever“ ein Jukebox-Musical – das heißt, alle verwendeten Lieder waren bereits veröffentlicht und wurden nachträglich in eine bereits existierende Handlung eingebettet – ein Beispiel für eine vollkommen neue Kompilation ist zum Beispiel „Mamma Mia!“ nach den Songs von ABBA. Werden eigentlich bei Musicals die Songs speziell zu einer bestimmten Handlung geschrieben, setzt das Jukebox-Musical auf bereits populäre Songs. Im speziellen Fall von „Saturday Night Fever“ haben die Lieder gerade über den Soundtrack des Films erst zu jener Popularität gefunden. Einige der im Musical vorkommenden Musiknummern aus dem Film werden jetzt in der Musical-Version natürlich live gesungen – nicht mehr in dem typischen Falsett-Ton der Bee Gees.

Aber es wurden auch andere Balladen zum Musical hinzugefügt, um die Figuren und ihre Gefühle, ihr Innenleben zu stärken, zu beleben und mit mehr Facetten anzureichern. Zwar stammen die hinzugekommenen Songs ausnahmslos von den Bee Gees, sie sind jedoch teilweise weit vor oder nach dem Film in anderen Kontexten entstanden, (die im Musical hinzugefügten Songs sind fett markiert).

- Stayin‘ Alive (Bee Gees)

- Boogie Shoes (KC and the Sunshine Band, Musik/Text: Harry Casey und Richard Finch)

- Disco Inferno (The Trammps, Musik/Text: Leroy Green und Ron Kersey)

- Salsation (Musik: David Shire)

- Night Fever (Bee Gees)

- It’s My Neighbourhood (Bee Gees, 1989)

- Jive Talkin‘ (Bee Gees, 1975)

- Immortality (Céline Dion, Musik/Text: Bee Gees, 1997)

- If I Can’t Have You (Bee Gees)

- More Than a Woman (Bee Gees)

- Nights on Broadway (Bee Gees, 1975)

- You should be dancing (Bee Gees, 1976)

- A Fifth of Beethoven (Musik: Walter Murphey, 1976)

- Tragedy (Bee Gees, 1979)

- What kind of fool ( Musik/Text: Albhy Galuten und Barry Gibb)

- How Deep Is Your Love (Bee Gees)
 

Hinzu kommen die Musiknummern, die speziell für das Musical komponiert wurden und direkt aus der Handlung erwachsen, wie zahlreiche Incidentals (Bühnenmusik zur Hin- und Überleitung von Szenen), Aktionsmusik wie beim Kampf oder bei der Sequenz von Bobbys Tod.
 


Ein Musical geht seinen Weg

Die Uraufführung des Musicals fand am 5. Mai 1998 im West End  (im London Palladium) statt. In der Choreografie und Regie von Arlene Philips, mit 47 Darsteller*innen und einem 18-köpfigen Orchester. Mehr als ein Jahr später, am 11. September 1999, kam es im Musical Dome Köln zur deutschsprachigen Erstaufführung und spielte für knapp drei Jahre. Dass die Deutschland-Premiere noch vor dem Broadway gezeigt wurde, war eine Seltenheit. Es wurde im Jahr 2000 mit dem Publikumspreis als „Beliebtestes Musical“ ausgezeichnet. In einer Neuinszenierung tourte es seit 2004 durch Deutschland. Am Broadway kam das Stück einen Monat später, am 21.Oktober 1999, im Minskoff Theater heraus. Nach über 500 Shows wurde es im Dezember 2000 eingestellt.

Alexander Klaws, der als Tony Manero bereits bei den „Freilichtspielen Tecklenburg“ und dafür von den Leser*innen des „Musical 1“-Magazins zu dem „Beliebtesten Musicaldarsteller 2016“ gewählt wurde, freut sich jetzt auf die Neuinszenierung von Till-Kleine Möller in Darmstadt, da ihn die Rolle von Tony Manero sehr reizt: „Genau diese Tiefe zu spielen, die diese Rolle mit sich bringt. Jeder Mensch, der Ziele und Träume hat und dafür kämpft, sie zu leben oder zu verwirklichen, geht oft Wege, die steinig sind oder erfüllt von Neid oder Missgunst. Das macht auch Tony mit aus, dass unser Publikum Zeuge dessen wird, wie hart man für Träume kämpfen muss, und es sich am Ende aber auch lohnen kann, gewisse Risiken einzugehen. Die Rolle des Tony ist ungewöhnlich vielschichtig und so etwas spielen zu dürfen, ist ein Geschenk für jeden Schauspieler.“


Nächste Woche: Gerne wird das Musical „Saturday Night Fever“ als eine Komödie eingeordnet und mit dem Etikett Tanzmusical versehen. Dass weit mehr dahintersteckt, dazu nächste Woche mehr.



Samstag, 12.02.22

III. BEE GEES – Die Geschichte der Brüder Gibb


Barry, Maurice und Robin Gibb – drei Brüder, die als Bee Gees über Jahrzehnte die Musikszene aufwirbeln und einen Hit nach dem anderen produzieren werden.
 


Ihre Geschichte ist eine wahre Achterbahnfahrt zwischen Triumph und Tragödie, zwischen Goldenen Schallplatten und mühsamen Comebacks. Sie blicken zurück auf eine eindrucksvolle Karriere, sie erfanden sich immer wieder neu – mal getrennt und wieder vereint. Und sie kreierten den unvergesslichen „Soundtrack of Disco“, der den Film „Saturday Night Fever“ und eine ganze Ära prägen sollte.

In zwei von ihnen autorisierten Dokumentationen berichten sie über ihre Anfänge, den raschen Aufstieg, die fulminante Karriere und ihre Schattenseite. („This is Where I Came In – The Official Story of the Bee Gees“, 2001 und „The Bee Gees. How can you mend a broken heart“, 2020) – denn „Saturday Night Fever“ war nur eine Phase in einer über 40-jährigen Karriere.

Anfänge in Karo-Westen

Es begann auf der Isle of Man: Erst Barry, dann werden drei Jahre später die Zwillinge Robin und Maurice geboren. Der Vater ist Schlagzeuger und Bandleader, weshalb Musik schon von Anfang an in ihrem Leben war. Die Brüder, (sie hatten noch eine ältere Schwester und den jüngeren Bruder Andy), ließen sich noch im Grundschulalter von den mehrstimmigen Harmonien der „Mill’s Brothers oder der „Everly brothers“ verzaubern. Barry sagte: „One day we will be very famous“ – das war wie ein Pakt für die Zukunft. Von der Man of Isle zog es die Familie nach Manchester und schließlich 1958 nach Australien. Sie übten wegen der Akustik in öffentlichen Toiletten und ihre ersten Auftritte hatten sie auf einer Rennbahn. Der lokale Discjockey Bill Gates wurde auf die drei Brüder aufmerksam, lud sie in seine Radioshow ein. Plötzlich hatten sie einen Namen „BeeGees“ (Brüder Gibb) und 1960 ihren ersten TV-Auftritt, Gigs auf Jahrmärkten und in Clubs. Sie trugen meist Karo-Westen mit einem aufgestickten „BG“, Barry an der Gitarre, die Zwillinge vereint davor. Drei Jahre später unterschrieben sie ihren ersten Plattenvertrag – und schon damals schrieben sie alle Songs selbst. Sie waren Kinder an der Grenze zu Jugendlichen und schrieben und sangen Lieder für Erwachsene. Ihr erster Chart-Hit (Platz 19) war 1965 „Wine&Woman“

Robert Stigwood

Sie wussten, um Erfolg zu haben, mussten sie Australien verlassen. Der Vater hatte noch vor ihrer Ankunft Demo-Tapes an verschiedene Plattenfirmen in England geschickt. Nur einer war interessiert: der Produzent Robert Stigwood. Er war einer der  größten und raffiniertesten Strippenzieher in der Geschichte der Popmusik. Er lancierte die Karrieren von Cream, Eric Clapton und den Bee Gees, verantwortete Pop-Film-Blockbuster und produzierte Musicals wie „Hair“, „Evita“ und „Jesus Christ Superstar“. „You can’t denie talent. And the talent was so obvious.“, so Stigwood über die drei Brüder. Drei Stunden nach dem Probespiel unterschrieben sie ihren ersten 5-Jahres-Vertrag. Und Stigwood sollte bis 1981 ihr steter Begleiter und Produzent bleiben. Das erste Album wurde aufgenommen, zwei Musiker verstärkten die Band an der Lead-Gitarre und an den Drums. Stigwood kündigte die erste Single dieser Band an als „The most significant new musical talent of 1967.“ Damals waren sie nicht weit vom Klang der Beatles entfernt, wenn sie auch dem Soul näher standen. Der Ruhm kam mit „To love somebody“, ein Song, den die Bee Gees eigentlich für Otis Redding komponiert hatten, der aber kurz zuvor verstarb.

Getrennte Wege

Zeitsprung: Ende der 1960er. Privat kamen sie an, alle heirateten in kurzen Abständen. Nach Außen hin wirkte alles harmonisch – die Familienbande intakt. Aber der Erfolg setzte den Brüdern zu. Sie dachten nicht mehr als Einheit. Eifersucht, alles zu viel zu schnell. Barry sagt: „We’ve stopped knowing each other.“ Vor dem vierten Album verließ Robin die Gruppe – isolierte sich von den Brüdern, startete eine Solo-Karriere. Barry und Maurice blieben vorerst als Bee Gees zusammen. Dann die Versöhnung. In ihren Songs wie „How can you mend a broken Heart“ (1971) verarbeiteten sie ihre eigene Geschichte, über Verlust und Verlorenheit ihrer „Trennungszeit“. Doch was sie machten, kam nicht mehr an. Das 1974 herausgebrachte Album Mr. Natural kam nicht mal in die Top 100. Ihre einzige Chance war es, sich gänzlich neu zu erfinden. Stigwood brachte den legendären RnB-Produzenten Arif Mardin (Staff Recording Producer bei Atlantic Records) ins Spiel. Und es war Eric Clapton, der ihnen empfahl, in den „Criteria Studios“ in Miami aufzunehmen.

Neuer Sound

1975 – wir nähern uns dem „Disco“- Sound. Auf dem Weg zurück vom Studio in Miami fuhren sie jede Nacht über dieselbe Brücke mit einem wiederkehrenden, rhythmischen Klickgeräusch beim Überqueren. Barry fing irgendwann an dazu zu singen: „Jive talkin …“ Noch in derselben Nacht schrieben sie den Song zu Ende. Sie wussten nicht einmal wofür Jive talkin (umgangssprachlich „Bullshit reden“) stand. Aber sie erfanden in dieser Nacht und in den darauffolgenden Tagen ihren neuen Groove. Sie begaben sich auf ein neues Gebiet, reflektiert Arif Mardin rückblickend, da nur wenige RnB-Sänger in dieser Zeit Synthesizer verwendeten.

Sie verschickten „Jive Talkin“ als Single, ohne den Namen der Bee Gees darauf, an US-Radiosender – denn ihr Name kam in der Zeit nicht mehr gut an. Das sollte sich ändern: Sie landeten damit ihren ersten Nr. 1 Hit in vier Jahren.

Der unverkennbare Falsett-Sound kam mit „Nights on Broadway“. Der Song war so gut wie fertig, doch Arif wünschte sich noch etwas für den Background – einer von ihnen solle im Rhythmus schreien. Barry versuchte es und da war er: der neue prägnante Bee Gee-Stimmklang. Barry schrie im Falsett „Blamin‘ it all“ – und dass er das konnte, hatte er bis dato selbst nicht gewusst. Falsett sei bis dahin eher in der Tradition schwarzer Musik zu hören gewesen, zum Beispiel bei The Stylistics Anfang der 70er Jahre (so Mykaell Riley, Musiker, Experte und Studienleiter für Black Music in Westminster in der 2020 entstandenen Dokumentation). Die Bee Gees übersetzten es für sich in ihren emotionalen Soul-Klang, erfanden mit „You should be dancin‘“ eine unverwechselbare RnB-Dance-Music. „Wir entdeckten ein neues Publikum“. Ein DJ des berühmten Clubs „Studio 54“ berichtet, wie dieser Song dreimal am Abend im Club lief, weshalb die Bee Gees mit den ersten Stein für diese milliardenschwere „Disco-Industrie“ gelegt hatten.

Ein Soundtrack, bitte

Bis 1976 waren schon drei essenzielle Lieder des späteren Musicals „Saturday Night Fever“ geschrieben – das konnten die Bee Gees zu diesem Zeitpunkt aber nicht wissen.

Die waren im Sommer 1977 in einem alten Château in Frankreich, um an ihrem nächsten Albumprojekt zu arbeiten, als der Anruf von Robert Stigwood kam: Er brauche Musik für einen kleinen Film. Selbst die Brüder waren bei der Beschreibung des Filmplots nicht besonders angetan: Ein Junge aus Brooklyn, der in einem Farbladen arbeitet und samstagsnachts die Tanzfläche erobert. Die Bee Gees sollten eigentlich nur zwei bis drei Songs schreiben. Stigwood orderte: „acht Minuten Musik: Aufregung am Anfang, Leidenschaft in der Mitte und noch viel mehr Aufregung am Ende.“

Zwar schickte Stigwood ihnen das Drehbuch, doch die Brüder lasen nicht darin. Sie schrieben lieber für ihr eigenes Album als für den Film. Einige Wochen später schickten sie ihr Tape an den Produzenten. Darauf zu hören: „Stayin‘ Alive, „More than a Woman“, „How Deep is Your Love“, „If I Can’t Have You“, „Night Fever“ – ein Hit reite sich an den anderen. Der Soundtrack war gefunden – und mit „Night Fever“ gaben sie auch einen wichtigen Anreiz für den Filmtitel. Ursprünglich sollte der Low-Budget-Film in nur 200 Kinos gezeigt werden. Aber letztlich wurden für „Saturday Night Fever“ andere Filme vom Programm genommen. Die Produktionsfirma RSO musste ihre Produktion auslagern. 30 Millionen Platten wurden verkauft. Es blieb 20 Jahre das bestverkaufte Soundtrack-Album und wurde erst in den 90ern von Whitney Houston und dem Soundtrack zu „Bodyguard“ abgelöst.

„It was a big hurricain.“ Sie bekamen einen Stern auf Hollywoods „Walk of Fame“. Sie dominierten die Charts: Fünf der Top Ten Hits waren von den Bee Gees.  Und auch wenn der Druck für ein Nachfolge-Album hoch war, „Spirits Having Flown“ sollte das erfolgreichste Album ihrer Karriere werden, darunter Songs wie „Tragedy“. Radiosendern blieb nichts anderes übrig, als die Bee Gees rauf und runter zu spielen – eine „Gibb-Überdosis“ (heißt es in der Dokumentation).

Das Ende einer Ära

Der Soundtrack zu „Saturday Night Fever“ machte sie zur ultimativen Disco-Band. Die Bee Gees selbst sagen, sie schrieben Lieder, sie wollten nicht mit diesem Label versehen werden. Doch in jener Zeit wurde dieser Musikzweig kommerziell ausgeschöpft und vieles als Erfolgsgarant mit dem Etikett „Disco“ versehen. Das führte zu einer Anti-Disco-Bewegung. Steve Dahl, Diskjockey beim Sender WLUP-FM in Chicago, wiederholte im Radio „Disco Sucks!“, imitierte mit eingeatmeten Helium die Bee Gees und zu guter Letzt rief er am 12. Jul 1979 dazu auf, nach einem Football-Spiel gemeinschaftlich Disco-Platten in die Luft zu jagen: Wer eine Discoplatte mitbrachte, wurde sogar für nur 98 Cent ins Stadion gelassen. Währenddessen spielten die Bee Gees noch in vollen Stadien. 50.000 Menschen im Stadion in Chicago wiederum skandierten „Disco sucks“. Das war das Ende einer Ära.

Ohne Kategorien

Die Bee Gees hatten keine Plattform mehr. Sie pausierten. Verstreuten sich in verschiedene Himmelsrichtungen. Sie lösten sich von dem Gedanken, weiterhin eine Gruppe zu sein und wurden zu Songschreibern. Ihr erster Hit war „Woman in Love“ für Barbra Streisand, der sofort auf Platz 1 landete. Das öffnete neue Türen: Sie schrieben für Diane Ross „Chain reaction“ und natürlich „Immortality“ für Celine Dion.

1985 standen sie doch als Gruppe wieder auf der Bühne – als Einheit, als Band. 2003 verstarb Maurice plötzlich an den Folgen einer Operation. Mit Maurices Tod lebten auch Robin und Barry sich wieder auseinander. Robin trat als Solokünstler auf, Barry setzte weiterhin auf seine Songschreiber-Qualitäten. Schließlich starb Robin 2012 nach langem Kampf gegen den Krebs.

Übrig bleibt Barry Gibb, er erhält 2013 den Preis für sein Lebenswerk (Silver Clef Award) und er beschließt die Dokumentation (2020) mit den Worten: „We never really had a category. We just had different periods. And we managed to fit into different eras.“


Nächste Woche: Im Mai 1998 kam das Bee Gees-Musical „Saturday Night Fever“ in London heraus, noch vor New York fand die Deutschland-Premiere des Musicals statt: Am 11. September 1999 in Köln. Doch dazu nächste Woche mehr.


Samstag, 05.02.22

II. Der Ursprung: Tribal Rites of the New Saturday Night

Der Club 2001 Odyssey in Brooklyn existierte wirklich – aber gab es auch einen wie Tony Manero?
 


Im Juni 1976 erschien im New York Magazine eine Reportage: „Tribal Rites of the New Saturday Night“ (Stammesriten der neuen Samstagnacht). Damit nahm alles seinen Anfang: Dieser Artikel inspirierte zum Film „Saturday Night Fever“ und bildet auch die Grundlage für das Musical. Inwiefern gleichen sich die Hauptfigur in der Reportage Vincent und Tony Manero? Was erfahren wir über das Milieu, in dem er und seine Clique „The Faces“ aufwachsen und was ist dran an dem Mythos, der sich um den „Disco King“ rankt?

Autor Nik Cohn proklamiert in seiner Reportage gleich zu Anfang: „Alles entspricht den Tatsachen und wurde entweder von mir beobachtet oder mir direkt von den beteiligten Personen erzählt. Nur die Namen der Hauptpersonen wurden geändert.“ Über Monate, genauer sieben Samstage habe er die neue Generation von Discogänger*innen beobachtet und sich im Folgenden auf die samstäglichen Rituale einer bestimmten Gruppe Jugendlicher aus Bay Ridge im New Yorker Stadtteil Brooklyn konzentriert. Wir begleiten beim Lesen den Autor durch diese Welt, wie er recht plastisch, fast filmisch, von dem Treiben im Randbezirk von Manhattan berichtet. Was anfänglich klingt, wie ein stark verfremdeter Blick auf eine exotische Spezies in einer unerforschten Lebenswelt, entpuppt sich als eine zugewandte Sozialreportage. So findet er in Bay Ridge nicht „eine monströse urbane Vorhölle, in der alle leben, die niemand sind.“ Das Gegenteil sei der Fall: Hier habe sich eine Generation von Jugendlichen hervorgetan, voller Drang und Hunger, deren Energien sich an jedem Samstag im Club 2001 Odyssey entladen. Dort begegnen wir auch Vincent.

Vincent – Tony ?!

„Vincent war der allerbeste Tänzer in Bay Ridge – das ultimative Gesicht (‚the ultimate Face‘). Er besaß vierzehn geblümte Hemden, fünf Anzüge, acht Paar Schuhe, drei Mäntel […] Jeder kannte ihn. Als er am Samstagabend das 2001 Odyssey betrat, wichen alle anderen automatisch vor ihm zurück und machten einen Platz für ihn frei, der genau in der Mitte der Tanzfläche lag. Anmutig wie ein mittelalterlicher Feudalherr, der Huldigungen entgegennimmt, winkt Vincent und nickt wahllos. Dann wurde sein Gesicht ernst, sein Körper wandte sich der Musik zu. Feierlich tanzte er, und alle Faces  folgten ihm.“

Da ist er – Vincent als Vorbild für den Filmprotagonisten Tony Manero. In dieser zwei Absätze umfassenden Beschreibung von Vincent liegt der Kern für den „King of Disco“ – zu dem ihn alle im Club machen und später Tony im Film werden sollte. Der Mann mit dem Tweed-Anzug (wie der Autor sich selbst nennt) umschreibt, mit welcher Wucht Vincent das Geschehen wie ein General lenkt: „Unter seinem Kommando entfalteten sie den ‚Odyssey Walk‘, ihre eigene Art von einem Hustle, für den sie strenge Reihen bildeten. Während sie in perfekter Einheit über den Boden fegten, bildeten 50 Körper eine Einheit, während Vincent Befehle rief: One, and Two, and One, and Tap. Und Drehen, und Eins, und Steppen. Und Drehen. Und Tippen. Und Eins.“ Und auch die „Faces“ bewegten sich unter seiner Anleitung zum Groove der Musik. „Odyssey war ihr Zuhause, ihr Hafen.“

Be a Face!

Wir erfahren in dem Artikel, was einen als „Face“ qualifiziere: Man müsse Italiener sein, zwischen 18 und 22 Jahre alt, die richtigen Klamotten, Halbschuhe im Gucci-Style, Goldring oder -kette, man solle tanzen können und keinen Kampf scheuen. Wer in dieser Clique war, gehörte zur Elite. Und ihr Territorium verteidigten sie mit aller Härte. In den Nationalitäten gab es „keine Überschneidungen“, wie der Autor bei seinen Besuchen in Bay Ridge erlebte. Konflikte und Streitereien zwischen Jugendgangs – hier zwischen Italienern und Puerto Ricanern – bestimmten ihren Alltag.

Was später Film und Musical aufgreifen werden, wird hier in dem Artikel schon problematisiert: Im Umgang mit rassistischen Konflikten und manifestieren sich diskriminierende Klischees aus den 1970er Jahren, die es natürlich im Jahr 2022 nicht zu reproduzieren gilt. Nein, die Frauen sollten nicht – wie von Nik Cohn sarkastisch beschrieben – bloße „Dekoration“ sein, um die Tanzfläche aufzufüllen. Annette, Stephanie und co. sind stark, sie treffen ihre eigenen Entscheidungen und werden nicht zum Spielball machoider Bedürfnisse.

Vincents Verhältnis zu Frauen wird an mehreren Beispielen beschrieben, zwei sind hervorgehoben. An einer Stelle lernen wir Donna kennen, die in Vincent verliebt ist und alles bereit wäre zu tun (es endet auf der Rückbank im Auto, ohne Sex, weil sie nicht verhütet). Im Film trägt sie den Namen Annette. An anderer Stelle antwortet er auf die Frage, ob er überhaupt schon einmal eine Frau geliebt habe: „Ich war einmal verliebt.“ Doch: Eines Abends konnte er wegen der erkrankten Schwester nicht vor Mitternacht im Club sein und dann war es zu spät … „Sie tanzte mit einem anderen“. Dieser größtmögliche Vertrauensbruch ließ seine Liebe abrupt enden. In Wahrheit gibt es für ihn nur eine:  „Vincent liebte nur seine Mutter, und das Gefühl zu tanzen.“

„I am her soul“ – „my mother is me.“

Wir erfahren noch mehr über Vincent, abseits der Tanzfläche. Er ist ein Italo-Amerikaner in der dritten Generation, schwarze Haare und Augen, weiße Zähne, ein Muttermal neben seinem rechten Auge und eine Narbe unterhalb des Kinns. Unter der Woche arbeitet er in einem Haushaltswarengeschäft – im Film ist es ein Farbladen. Er braucht vier Stunden, um sich für Odyssey fertig zu machen. Er lebt im 11. Stock eines Hochhauses. Sein Vater sitzt im Gefängnis, und sein älterer Bruder fiel im Vietnamkrieg, sein zweitältester Bruder erholt sich von einem Autounfall im Krankenhaus, der Dritte zog nach Manhattan. Es bleiben: seine Mutter, und seine zwei jüngeren Schwestern Maria und Bea. Auch Vincent wollte raus aus Bay Ridge, doch er würde seine Mutter nie im Stich lassen. „I am her soul“ – „my mother is me.“ Und so wünscht er sich nichts sehnlicher, als reich zu sein, um ihr ein Haus kaufen zu können. „Meine Mutter liebt grünes Gras. Und den blauen Himmel.“ – eine große Liebeserklärung, die Musical und Film aufgreifen werden. Wenn sich auch die Familiensituation im Film etwas bürgerlicher gestaltet – Vater, Mutter, drei Kinder, (im Film auch Großmutter) – es bleibt die drohende Armut durch die Arbeitslosigkeit des Vaters, die Ausweglosigkeit des immer gleichen Alltags und Tony als Alleinverdiener im Haus. Das sind die Schattenseiten des King of Disco.

Und was Vincent sogar körperlich in Panik versetzt, ist die Endlichkeit seiner Jugend. „Ich bin alt“ – Selbstmordgedanken treiben ihn um. Jene fein gezeichneten Nuancen wird auch Drehbuchautor Norman Wexler im Charakter von Tony Manero übernehmen. Seine drängende Suche nach Anerkennung, nach Halt, nach Verwirklichung der eigenen Träume wird auch zum Leitmotiv für alle anderen Figuren in der Inszenierung in Darmstadt.

„It felt just like a movie“ … - Alles Erfindung!

Nik Cohn entwirft in seiner Reportage einen filmischen Kosmos, er lenkt die Blicke der Leser*innen auf die Tanzfläche ins 2001 Odyssey, auf die Bay Ridge Street oder gar im Close-Up auf Vincents innere Zerrissenheit. An einer Stelle – Vincent wird gerade auf der Tanzfläche von einer Frau geküsst, die dann ausruft „Ich habe Al Pacino geküsst“ – spinnt der Autor die Situation wie im Film fort: Vincent sieht im Spiegel sich selbst als Al Pacino, als Killer und Star, er steht dann mit einer Waffe auf der obersten Stufe einer Treppe und schießt einen Pulk von Angreifern nieder, bis er alleine zurückbleibt. Er rückt seine Kette zurecht und lächelt. „It felt just like a movie“, so der Autor.

Cohns stark  bildhaft-imaginärer Schreibstil verwundert nicht, denn: 1994 offenbarte er im Guardian, 1996 in der New York Times, dass die Reportage größtenteils reine Erfindung  war. Er habe unter Termindruck gestanden und hatte keine Ahnung über die Brooklyner Discoszene. „Ich war gerade erst in Amerika angekommen. Ich hatte keine wirklichen journalistischen Ansprüche. Ich habe Romane geschrieben. Ich hatte ein paar Gespräche im Club, aber ich konnte nicht unter die Oberfläche gehen. Ich war völlig überfordert. Es war eine rein männlich dominierte Welt.“ Vorbilder kreierte er eher aus seiner West Londoner Zeit, wo sich die Riten – Rest des Lebens war beschissen, nur am Wochenende konnte man König der Nacht – wiederholten. Aber heißt das auch, dass es Vincent nicht gab? Ja und nein. Ralphie d’Agostino war Ende der 70er Jahre DJ im 2001 Odyssey und er sagt: „Es gab einen echten Tony Manero. Sein Name war Eugene Robinson. Er hat den Club nicht so in seinen Bann gezogen wie Travolta. Aber der Typ war ein wirklich guter Tänzer. Er hatte blondes Haar. Er hat nicht in einem Farbengeschäft gearbeitet, sondern im Supermarkt.“

Gerade weil Cohn es trotz allem schaffte, ein Milieu fast filmisch einzufangen, erkannte der Produzent Robert Stigwood – auch Produzent der Bee Gees – sofort das Potenzial der Geschichte. Er sicherte sich umgehend die Filmrechte, engagierte den mit zwei Oscar nominierten Drehbuchautor Norman Wexler (u.a. Serpico mit Al Pacino 1974) und den Regisseur Johan Badham. Gerade erst hatte er den erst 23-Jährigen Serien-Schauspieler John Travolta für drei Filme unter Vertrag genommen („Saturday Night Fever“ 1977, „Grease“ 1978, „Moment by Moment“ 1978). Um das Publikum nicht zu verwirren wurde aus Vincent Tony Manero, da John Travolta zuvor in der Serie „Welcome Back Kotter“ einen Charakter namens „Vinnie“ gespielt hatte. In Darmstadt wiederum spielt die Rolle des Vincent alias  Eugen Robinson alias Tony Manero Alexander Klaws – der sich schon auf die vielen Facetten und Farben des Disco-King freut.


Nächste Woche: Keiner zuvor konnte ahnen, dass aus dieser Low-Budget-Produktion einer der größten Kino-Blockbuster erwachsen würde, der Film- und Disco-Geschichte schreiben sollte. Und er brachte die Bees dauerhaft an die Spitze der Charts – doch dazu nächste Woche mehr!


Samstag, 29.01.22

Zugegeben – auch mir schoss beim ersten zarten Gedanken an „Saturday Night Fever“ sofort das eine prägende Bild in den Kopf: John Travolta in weißem Anzug auf einer grell-bunt erleuchteten Tanzfläche mit eingeknickter Hüfte und diagonal nach oben gestrecktem Arm; dazu die Titelmelodie „Night Fever, Night Fev-e-er“ mit dem betörenden Falsett-Sound der Bee Gees im Ohr. Und ja, ich gestehe auch, am Anfang eine gewisse Skepsis gehabt zu haben. „Saturday Night Fever“ – mehr als ein Tanzmusical? Zwar wusste ich, dass 1977 der Film und auch das Musical seit 1998 einen großen Hype – ja, im wahrsten Sinne ein Fieber – ausgelöst hatten, aber ich fragte mich: Warum gerade dieses Musical? Und warum es heute noch spielen?

Jene Skepsis sollte sich bald ins Gegenteil verkehren!!! Meine Beschäftigung mit den Hintergründen, mit der Entstehungsgeschichte und -zeit ließen mich allmählich erahnen, weshalb „Saturday“ zu einem überzeitlichen Phänomen der Pop-Kultur avancierte. Nicht nur, dass es für damalige Zeiten bemerkenswert düster, kritisch und alles andere als zurückhaltend war, der Film verhandelt durchaus erschütternde, aktuelle gesellschaftliche Themen: Identitätskonflikte der Jugend, dysfunktionale Familienverhältnisse, sexistische oder rassistische Marginalisierung sowie die existentielle Suche nach einem Sinn und Halt im Leben, während die äußeren Welt immer mehr ins Wanken gerät. Ein Musical also, das auf vielen Ebenen anregt – nicht „nur“ zum Mitwippen.

Abseits des berühmten, leuchtenden Dancefloors von „Saturday Night Fever“ werde ich am Ende jeder Probenwoche – pünktlich zum Samstagabend – einige Aspekte zum Musical und zu den Hintergründen in diesem Blog verhandeln: Beginnen wir mit „Disco“ …

 

I. Disco-Kultur – „You should be dancing“

Modell des “Club Odyssey“ in der Inszenierung "Saturday Night Fever"



„Disco ist die beste Show der Stadt. Sie ist sehr demokratisch: Jungs mit Jungs, Mädchen mit Mädchen, Mädchen mit Jungs, Schwarze mit Weißen, Kapitalisten mit Marxisten, Chinesen und alles andere. Alles ein großer Mix.“, so Schriftsteller Truman Capote inmitten der Anfänge einer Disco- Bewegung. „Disco“ war bis Ende der 1970er Jahre ein Underground-Phänomen. Es entstand aus einer Subkultur heraus, als authentischer Ausdruck einer Szene. In urbanen Schutzräumen hatte es seinen Ursprung in den „gay and black clubs“ – wie ein Artikel in der Washington Post bereits 1979 umreißt. Nicht nur ein Gemeinschaftsgefühl wurde zum zentralen Anliegen der Tanzkultur, sondern auch Ekstase und Entgrenzung. Dort konnten die Disco-Tänzer*innen unter den hypnotisierenden, sich wiederholenden Beats ihre Freiheit jenseits aller Normen feiern. Die Musik und der damit verbundene Lebensstil wurden folglich von Menschen geschaffen, die aufgrund ihrer Hautfarbe (Schwarze), Herkunft (Latinos), Sexualität (Homosexuelle) oder Klasse (Arbeiter) marginalisiert und an den gesellschaftlichen Rand gedrängt wurden (Alan Jones/Jussi Kantonen, The Story of Disco).


Glamouröse Reaktion auf die ‚schwerfällige‘ Rockmusik

Noch bevor der Disco-Kult zu einem weltweiten Trend wurde, war er eine glamouröse Reaktion auf die ‚schwerfällige‘ Rockmusik der späten 1960er Jahre. Während Rockmusik vornehmlich als Live-Medium den Schwerpunkt auf die Beziehung zwischen den Performenden und dem Publikum legte, so führte die von DJs gespielte Discomusik zu einer Fokussierung auf den tanzenden Körper. Nicht die Künstler*innen auf der Bühne, sondern das Publikum selbst wurde zum Star der Nacht. „Der neue Lifestyle transformierte die kollektivistische Ideologie der Hippies und der Rockmusik in ein individualistisches Hedonismus-Konzept, das in Gestalt der Clubkultur bis heute gültige Maßstäbe für unsere Freizeitgestaltung setzt.“ (Ernst Hofacker, „Die 70er Jahre“). Der spezielle Sound etablierte sich aus bereits vorhandenen Musikstilen wie Pop, Soul, Funk und neue Einflüsse aus der elektronischen Musik zu einem pulsierenden Hybrid. Es gab nur wenige Künstler*innen, die sich allein diesem Genre verschrieben und damit anhaltend Erfolg hatten, wie Gloria Gayner, Donna Summer und Grace Jones. Viele andere Künstler*innen landeten One-Hit-Wonders und produzierten Plattensingles statt aufwendig konzipierte Studioalben.

Balls und Voguing

Gesellschaftlich betrachtet waren die 1970er Jahre in den USA – aber auch in Deutschland – eine Zeit des Umbruchs.  Vietnamkrieg, politische Orientierungslosigkeit, Ölkrise und Inflation standen einer neuen gesellschaftlichen Suchbewegung gegenüber: aus dessen Geist auch die sexuelle Befreiung, der Feminismus und die Bewegung der LBTGQ+ Community weiter wuchsen. Während 1969 die als Stonewall Riots bekannt gewordenen Unruhen zu einem prägenden Moment in der Homosexuellen-Bewegung wurden, waren die 1970er Jahre Ausdruck einer Zeit im Aufbruch. In den sogenannten „Balls“ (Ballrooms als Überbegriff) etablierte sich in der schwarzen und Latino LGBTQ+ Community von Harlem zu dieser Zeit ein neuer an Posen orientierter Tanzstil: das Voguing (Bezeichnung nach der Modezeitschrift „Vogue“) – einen Stil, den Choreograph Timo Radünz in Darmstadt aufgreifen wird. Die „Balls“ boten einen Schutzraum, in dem sich die Tänzer*innen kreativ ausdrücken konnten, um nicht nur auf der Tanzfläche, sondern auch in der Gesellschaft ihren Platz zu beanspruchen und zu verteidigen.

Kinohit Saturday Night Fever

Am 14. Dezember 1977 kam „Saturday Night Fever“ in die Kinos – in einer vorerst unzensierten Version, die ein Jahr später 13 Minuten gekürzt und weniger explizit auch in Deutschland erschien. Die enorme Popularität des Films und des dazugehörigen Soundtracks der Bee Gees führten schlagartig zu einem Wandel von Disco: Was im Untergrund begann, wurde zu einer Mainstream-Kultur und dieser Soundtrack zum beherrschenden Faktor in den kommerziellen Charts (Ernst Hofacker). Neben den einschlagenden Songs der Bee Gees holten Songs wie „Disco Inferno“ von The Trammps, „Boogie Shoes“ von  KC and The Sunshine Band, „Open Sesame“ von Kool and the Gang und „A Fifth of Beethoven“ von Walter Murphy den Film in den Disco-Kosmos der Zeit. Till Kleine-Möller, Regisseur von „Saturday Night Fever“ in Darmstadt, ist fasziniert von der Wirkung, die der Film damals auslöste. „Die Produzenten und Macher des Films waren sich damals dessen sicher nicht bewusst, welche Auswirkungen bzw. welchen Einfluss er nicht nur auf die Menschen, sondern auch auf die moralischen Zustände der 70er Jahre haben wird. Es ist fast einzigartig in der Filmgeschichte, dass ein Film zum Erfolg einer Musikgruppe führt und die Musik weltweiten Bekanntheitsgrad erlangt. Er war Auslöser für Neueröffnungen von Diskotheken und Tanzstudios, die allein aus dem entstandenen Hype um Musik und Bewegung, die berühmten Tanzschritte des Films den tanzwütigen Menschen beibrachten.“

Ausstieg aus dem Alltag

Wie im Film der Club "2001 Odyssey", wo sich Tony und seine Freunde jede Samstagnacht dem Rausch, Drogen, Sex und Tanzen hingeben, wurden die Diskotheken nun auch für ein breiteres Publikum zu einem Ort des Eskapismus und Ausstieg aus dem quälenden Alltag. Gleiches besang auch Norma Jean 1978 in ihrem Song „Saturday“:  „All I do is work. I’m no robot. Let’s go disco.“ Im gleichen Jahr erschien auch „The Official Guide to Disco Dance Steps“, der mit einfach zu verfolgenden Diagrammen versprach, aus allen filmreife Discotänzer*innen zu machen und in Tanzstudios wollten alle den (American) Hustle tanzen lernen: ein Modetanz, bei dem alle in einer Reihe den gleichen Schrittkombinationen folgen. „Im Film wird oft die Perspektivlosigkeit der Jugendlichen benannt und spiegelt natürlich die moralischen Zustände der Generation der 70er Jahre wider“, wie Regisseur Till Kleine-Möller beschreibt und weiter: „Das Tanzen als Verdrängung und Unterdrückung der Eigenverantwortung und des Pflichtbewusstseins ist nicht gerade das Mittel, eine Revolution oder Reformation anzuführen. Und dennoch wurden der Tanz, die Musik und die Discowelt zu einem moralischen Wegweiser, der den Menschen eine Hoffnung in einer Zeit schenkte, in der die Zukunft weniger wichtig war als die Gegenwart. Somit hat der Film als Kunstform und als Spiegel der jugendlichen Generation, ohne politisch sein zu wollen, etwas politisch bewegt. Auch eine andere Gruppe landete wie „Saturday“ einen unerwartet großen kommerziellen Erfolg. Sie selbst nannten sich „People Liberation Group“ (Gruppe zur Befreiung des Volkes): The Village People. Ihren ersten Promo-Auftritt hatten sie übrigens im legendären, real existierenden 2001 Odyssey in Brooklyn.


Nächste Woche: Auslöser und Anstoß für den Film „Saturday Night Fever“ und damit die überschwappende Disco-Welle war ein 1976 im New York Magazine erschienener dokumentarischer Artikel von Nik Cohn: „Tribal Rites of the New Saturday Night“ (Stammesriten der neuen Samstagnacht). Gab es diesen Tony Manero also wirklich?  … Dazu nächste Woche mehr!